Grant Hendrik Tonne im Interview: „Spaß ist hier ein falscher Begriff“

Kultusminister Grant Hendrik Tonne spricht im Interview mit Christoph Oppermann über die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Bildungsinstitutionen. Kultusminister in Niedersachsen: Das gilt traditionell ohnehin nicht als vergnügungssteuerpflichtig und erinnert ein wenig an den Fußballbundestrainer. Jeder hat Ahnung von der Sache – und jeder weiß es besser. Jetzt kommt noch als Folge der Corona-Pandemie ein verkorkstes Schuljahr hinzu. Macht Ihnen Ihr Job noch Spaß? Ich glaube, im Moment ist Spaß hier ein falscher Begriff. Wir haben eine Situation, die noch nie jemand gehabt hat, die man nicht vorhersehen konnte und in der man sehr deutlich merkt, wie groß die Verantwortung bei allen Entscheidungen ist. Das ist eine Herausforderung, die einem auch selber die eine oder andere schlaflose Nacht bereitet. Auf der anderen Seite gilt es, wenn man solch eine Tätigkeit annimmt, die Verantwortung wahrzunehmen. Das gehört mit dazu. Ansonsten finde ich, wenn man versucht, sich davon ein bisschen zu lösen: Gestaltung von Bildungspolitik ist eine unheimlich spannende Aufgabe, und die macht auch durchaus Spaß. Notfallplan oder nicht: Für das Geschehen der vergangenen Wochen gibt es keine Blaupause – oder hatte das Kultusministerium derartige Notfallpläne in der Schublade? Wenn wir uns Mitte Januar darüber unterhalten und gefragt hätten, ist so etwas überhaupt möglich, hätten alle Beteiligten gesagt, so etwas ist undenkbar, das passiert nicht. Das hat in der Auswirkung keiner vorhergesehen. Als allerdings klar wurde, wir gehen in Schulschließungen, haben wir uns sofort an die Beantwortung der Frage gemacht, wie muss es weitergehen. Es wurde sehr intensiv daran gearbeitet, sich auf alle Szenarien, die kommen können, vernünftig einzustellen: Wiederbeginn des Präsenzunterrichts – was bedeutet das für die Schulen? Was bedeutet das fürs Lernen zu Hause? Das hat mit hoher Intensität und Priorität stattgefunden, um die Situation zu meistern und um immer wieder sagen zu können: Auch wenn noch Unvorhergesehenes kommt, es weiß ja niemand, wie sich die Lage rund um die Corona-Pandemie weiterentwickelt – wir sind darauf eingestellt. Wenn eine Entwicklung eintritt, die wieder mehr Einschränkungen erfordert, sind wir darauf eingestellt – ebenso dann, wenn die Möglichkeit besteht, Lockerungen zu erweitern. Welche Probleme sind im Zuge des Unterrichtsausfalls an den Schulen besonders zutage getreten? Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass wir flächendeckend Schulen und Kitas schließen mussten. Das gab es bis dahin nicht. Da stellten sich schnell viele Fragen: Was bedeutet das eigentlich insbesondere für die Familien? Was bedeutet das für Klausuren, für die Noten, die Zeugnisse? Was bedeutet das im berufsbildenden Bereich? Gewohnte Normalität war auf den Kopf gestellt. Zentrales Problem war, dass die Bildungseinrichtungen geschlossen werden mussten, und diese Problematik in die Elternhäuser verlagert wurde. Sie haben am Donnerstag den Plan vorgestellt, wie stufen- und etappenweise Schule wieder in den Betrieb gehen soll. Ende April sollen die Schulen mit dem Unterricht beginnen. Warum haben Sie diese Reihenfolge gewählt, in der einige Schüler zuerst und andere zuletzt wieder in die Schule gehen sollen? Die Prämisse war: Als Erste müssen wir diejenigen in die Schulen zurückholen, die Abschlüsse zu machen haben – Abitur, Realschulabschluss, erweiterter Realschulabschluss Hauptschulabschluss. Diesen Schülern wollen wir Vorbereitungszeit für Prüfungen mit an die Hand geben. Zweitens soll neben den Abschlussklassen schnell ein Blick auf diejenigen gerichtet werden, die vor einem Übergang in ein anderes Schulsystem stehen, insbesondere der Jahrgang vier an den Grundschulen. Dann richten wir unter genau denselben Kriterien unseren Blick auf diejenigen, die im nächsten Schuljahr vor Abschlüssen oder Übergängen stehen. Danach geht die Reihenfolge immer von den Älteren zu den Jüngeren. Zu beachten ist auch: Wir kehren ja nicht zur Normalität zurück. Wir haben schulisches Lernen unter Corona-Bedingungen, unter Einschränkungen. Bei älteren Schülern können wir eher voraussetzen, dass sie das Verständnis für viele Einschränkungen haben, die ihnen auferlegt werden: Mit weitem Abstand in der Klasse zu sitzen, sich zur Begrüßung nicht in den Arm zu fallen, auf dem Schulhof Abstand voneinander zu halten. Deshalb wollen wir erst die Älteren in die Schulen holen. Denn die Prämisse lautet immer: Gesundheitsschutz für alle Beteiligten. Wie gerecht werden die Zensuren ausfallen? Als wie regulär kann dieses Schuljahr überhaupt noch gelten, und wie gerecht sind die Zeugniszensuren? Bei dem, was wir bis zur Sommerpause planen, reden wir nicht von Schule im Normalbetrieb, sondern von Schule unter Ausnahmebedingungen. Damit ist klar, dass alle Bewertungsszenarien, und Leistungsprüfungen nicht unter Normalbetrieb laufen. Bei den Zeugniszensuren haben wir uns ein Verfahren überlegt, mit dem wir möglichst gerecht beurteilen können. Heißt: Wir bewerten als Erstes die ersten sechs Wochen unter Normalbedingungen in diesem Schulhalbjahr. Wenn es weitere Präsenzzeiten gibt, sehen wir, welche weiteren Leistungsbewertungen möglich sind. Das betrifft vor allem die mündliche Mitarbeit. Aber es können auch andere Leistungen beurteilt werden: zum Beispiel ein Referat zu erstellen oder einen Vortrag zu halten. Ich habe die Lehrkräfte gebeten, bei ihrer Bewertung die besonderen Bedingungen mit einfließen zu lassen, um so viel Gerechtigkeit zu ermöglichen, wie es nur irgendwie geht. Wie laufen Abiturprüfungen und andere Abschlüsse in diesem Schuljahr konkret ab? Wir haben in diesem Jahr durch den Wechsel von 12 auf 13 Schuljahre bis zum Abschluss an einem Gymnasium einen verhältnismäßig kleinen Abiturjahrgang. Das macht es einfacher. Und wir haben einen Fahrplan für die Prüfungen aufgestellt, der realisierbar ist. Wir haben durch die gestaffelte Rückkehr der Jahrgänge außerdem die Möglichkeiten, während der Prüfungen die empfohlenen Infektionsschutzmaßnahmen einzuhalten – für die Gesundheit der Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte. Schüler aus den sogenannten Risikogruppen bekommen eine entsprechende Beratung, und im Zweifelsfall werden sie isoliert von anderen geprüft. Die Zeit der Schließung haben wir genutzt, um die Abiturprüfungen um drei Wochen zu verschieben. Und wir holen die Prüfungsklassen bereits am 27. April zurück in die Schule. Sie haben dann keinen Unterricht im klassischen Sinne, sondern wir legen extra für sie zwei Wochen Prüfungsvorbereitung auf. Stornokosten für Klassenfahrten: Als Folge der Pandemie sind an den Schulen reihenweise Klassen-, Kurs- und Studienfahrten ausgefallen. Wer trägt die Stornokosten? Rein rechtlich ist es so, dass diejenigen, die absagen müssen, die Stornokosten tragen. Wir diskutieren aber noch auf Landesebene, in welchem Ausmaß wir Unterstützung leisten können. Hierzu gibt es noch keine abschließende Entscheidung der Landesregierung. Natürlich haben wir den Wunsch, Schulen nicht alleine zu lassen. Dazu brauchen wir einen Diskussionsprozess in der Landesregierung, ob wir dort finanzielle Unterstützung leisten können. Im Zuge dieser Absagen ist auch bekannt geworden, welche exotische Reiseziele diese Fahrten gelegentlich haben. Schulen scheinen inzwischen regelrechte Reisebüros geworden zu sein. Müssen Klassenfahrten oder Schulreisen nach Indien beispielsweise wirklich sein? Abseits aller Diskussionen um die Corona-Krise: Wenn man sich die Entwicklung der vergangenen Jahre anschaut, kann man schon feststellen, dass es offensichtlich das Prinzip ist „immer größer, immer weiter“. Ich glaube, dass uns diese Entwicklung insgesamt am Ende des Tages, wenn wir uns auch wieder über andere Dinge unterhalten können, sehr genau zu der Frage führen sollte, ob nicht ein bisschen weniger mehr und Reiseziele in der Nähe nicht mindestens genauso sinnvoll sind wie das, was teilweise geplant worden ist. Laptops statt Bücher: Vor knapp 20 Jahren bereits hat der damalige Ministerpräsident Sigmar Gabriel gefordert, statt vieler Bücher Laptops in jeden Schulranzen zu packen. Viel scheint sich seitdem nicht weiterentwickelt zu haben, oder? Ich glaube, da sollten wir gut differenzieren. Wenn man es auf den Laptop beschränkt, sind wir vermutlich beieinander. Aber: Wenn ich bei meinen Schulbesuchen in den Klassen frage, wer hat eigentlich ein digitales Endgerät wie Handy oder Tablet, haben wir eine hohe Abdeckungsquote. Meine These: spätestens ab Klasse fünf nahezu 100 Prozent. Ausnahmen gibt es immer. Wenn man an den Grundschulen fragt, wer regelmäßig Zugriff hat auf Laptop, Tablet und Computer von Mama und Papa, sieht man bei ganz vielen ein breites Grinsen im Gesicht. Ich glaube, dass ganz viele Schülerinnen und Schüler in dem Bereich tatsächlich etwas haben. Und wir sind gut beraten, das bei den Angeboten zum digitalen Lernen mit einzubeziehen. Wir bringen, auch unter dem Druck der aktuellen Lage, die niedersächsische Bildungscloud besonders voran. Wir haben von vornherein gesagt, dass diese Bildungscloud mit jedem noch so einfachen digitalen Endgerät benutzbar sein soll. Das ist sie, und wir müssen jetzt gucken, wie wir diejenigen, die digitale Endgeräte haben, sinnvoll einbeziehen.Wie gut das funktionieren kann und wie hilfreich die Bildungscloud für Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte bei der Erstellung von Hausaufgaben sein kann, zeigt ein sehr gelungenes, kurzes Tutorial aus unserem Hause. Man kann es sich gerne einmal auf Youtube unter dem Titel „Niedersächsische Bildungscloud – Hausaufgaben“ ansehen. Ich gebe zu, da geht deutlich mehr, das kann man deutlich vielfältiger aufstellen. Aber da wurde mit einem Tutorial gezeigt, wie man einfache Schritte in die Nutzung einer Bildungscloud aufnehmen konnte. Ein gutes Beispiel dafür, was man niedrigschwellig machen kann. Den Angeboten sind nach oben natürlich keine Grenzen gesetzt. Was fehlt noch an Infrastruktur, um diese Form von E-Learning auszubauen und überall verfügbar zu machen? An einigen Stellen fehlt tatsächlich die Infrastruktur. Das muss man ganz deutlich sagen. Die Bemühungen, die wir gerade über den Digitalpakt haben, sehen ja vor, in Schulen die Infrastruktur deutlich auszubauen, zum Beispiel Serverstrukturen und WLAN-Ausleuchtung hinzubekommen. Aber abseits der Zuständigkeit des eigenen Ministeriums muss man sich nichts vormachen: Im ländlichen Raum ist die Geschwindigkeit bei der Internetnutzung bei Weitem nicht so, dass man das als ausreichend bezeichnen kann. Da müssen wir besser werden. Wir haben auf der einen Seite den Digitalpakt, der Schulen richtig Geld an die Hand gibt für Ausstattung, auch nachhaltige Ausstattung. Wir haben den Masterplan Digitalisierung des Landes, der zum Beispiel für Schulen, die noch keine gute Breitbandanbindung haben, die Möglichkeit bietet, sie auch darüber zu bekommen. Das sind Unterstützungsnotwendigkeiten, die noch da sind. Allerdings sind wir nicht am Ende des Weges, das darf keiner behaupten. Aber ich sehe uns auf einem guten Weg, auf dem ich gerade ein hohes Tempo wahrnehme. Einige Schulen, die in diesem Schuljahr Sprachlernklassen eingerichtet haben, haben keine Genehmigung erhalten, diese im nächsten Schuljahr fortzuführen. Wie soll die Förderung der Schülerinnen und Schüler ohne ausreichende Sprachkenntnisse erfolgen? Werden zusätzliche Stunden zur Verfügung gestellt? Da liegt ein Missverständnis vor bezüglich der grundsätzlichen Konzeption. Eine Sprachlernklasse wird immer nur für ein Jahr genehmigt. Dann wird für das nächste Schuljahr geschaut, ob es Bedarf gibt, wieder eine neue Sprachlernklasse einzurichten. Auch unterhalb einer Sprachlernklasse bekommen Schulen, wenn sie Schülerinnen und Schüler mit Bedarf haben, entsprechende Stunden zur Verfügung. Im nächsten Jahr kann dann die Schule schauen, wie groß der Bedarf ist. Ist er groß genug, wird unter denselben Voraussetzungen wie für das laufende Schuljahr eine Sprachlernklasse genehmigt. Da nehmen wir keine Änderungen vor. Alle Folgen der Corona-Pandemie sind mit Unbequemlichkeiten und Restriktionen behaftet, die sich so niemand gewünscht hat. Man könnte diese ungewöhnliche Situation aber auch als Chance begreifen und für Veränderungen im Schulleben sorgen, die bislang eher schwer vorstellbar waren. Oder pointierter gefragt: Wenn wir Schulen, wie wir sie heute kennen, nicht hätten – würden Sie diese noch einmal so erfinden? Ob ich sie so erfinden würde, kann ich gar nicht abschließend beurteilen. Das ist Stoff für einen Fachaufsatz. Ich teile aber die Einschätzung, dass in jeder Krise immer auch eine Chance liegt. Was ich jetzt sage, ist kein Vorwurf. Ich glaube, wir haben miteinander sehr häufig die Neigung, sehr viel sehr klein und detailliert regeln zu wollen, im Sinne von Vorgaben. Und wir erleben gerade jetzt, dass es ein großer Vorteil ist, wenn man in Schulen allen Beteiligten, Lehrkräften, Schulleitungen und Mitarbeitern sagt: Wir vertrauen euch, dass ihr gute Arbeit macht, und wir vertrauen darauf, dass ihr den Rahmen der euch vorgegeben wird, richtig ausfüllt. Ich glaube, dass das etwas ist, das an sich sehr wertvoll wäre, wenn wir das alle miteinander auch für eine Zeit nach einer Krise uns immer wieder vor Augen führen. Positive Aspekte im Bildungsbereich: In vielen Bereichen, privat wie im Arbeitsleben, haben wir während der Pandemie auch positiv wahrgenommene Folgen, beispielsweise gibt es in Betrieben flexible Home-Office-Regelungen, die vorher an vielerlei Vorgaben gescheitert sind. Gibt es derlei positive Aspekte auch im Bildungsbereich? Gibt es Beispiele, die Modellcharakter haben könnten? Beispiele aus Schulen für andere Schulen? Wir haben bis zu dieser Situation an vielen Stellen eine sehr große Skepsis gegenüber Neuerungen oder Veränderungen gehabt. Kann zum Beispiel der Einsatz von digitalen Geräten und von Videokonferenzen richtig sein? Dadurch, dass wir jetzt dazu gezwungen sind, kriegen wir von ganz vielen Stellen die Rückmeldung: Das bringt ja durchaus etwas Positives mit sich. Ich bin sehr entschlossen, bei der Entwicklung von Lernen mit digitalen Medien mit der Beschleunigung, die wir in diesem Bereich haben, auch in Nachkrisenzeiten vom Tempo her nicht nachzulassen. Geschweige denn, sogar Dinge zurückzudrehen. Das ist neben der wirklich schwierigen und auch richtig herausfordernden Situation für viele Beteiligte im Rahmen dieser Krise vielleicht wenigstens eine Kleinigkeit, die auch etwas Gutes hat. Es fällt mir aber schwer, von einer schweren Krankheit, an der auch Menschen sterben, etwas Gutes ableiten zu wollen. Die Möglichkeit, mit digitalen Medien viel intensiver arbeiten zu können als zuvor, sollten wir uns jedenfalls erhalten. Mehr zum Thema: Bildungsforscher Hüther: Corona-Krise eröffnet Schülern neue Lernerfahrungen Corona-Liveticker: Die aktuellen Entwicklungen in Göttingen und der Region Sie erreichen den Autor unter: E-Mail: c.oppermann@goettinger-tageblatt.de Twitter: https://twitter.com/tooppermann Facebook: https://www.facebook.com/christoph.oppermann Das tägliche GT/ET Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Göttingen täglich gegen 17 Uhr im E-Mail-Postfach Von Christoph Oppermann

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