Coronakrise beflügelt den Trend zur Selbstversorgung

Wie segensreich es sein kann, ein Stück Land zu beackern oder Nutztiere zu halten, zeigt sich vor allem in Krisenzeiten. Der Corona-Lockdown hat den Trend zur Selbstversorgung, verstärkt, nicht nur die Zahl an Hochbeeten und Kräuterspiralen wächst weiter. Zoë Scho (56) und Ralf Wehrt (57) leben schon seit Jahren von Scholle und Stall in den Mund. Die Corona-Auszeit haben Sie auch dazu genutzt, ihre Nutzfläche zu erweitern. Das tägliche GT/ET Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Göttingen täglich gegen 17 Uhr im E-Mail-Postfach Die 1892 als Musterhaus errichtete Sandstein-Villa am Ortseingang von Bösinghausen lenkt ebenso die Blicke auf sich wie die Schweine, die sich auf einem eingezäunten Areal davor tummeln. In der „Villa Krafft“, die auch als Wohnhaus für den Göttinger Stadtförster diente, leben Scho mit Sohn Florian (17) und Wehrt seit 2013. Damals war das Grundstück total verwildert, Schoe wollte unbedingt einen Kräutergarten haben. „Mit drei Quadratmetern ging alles los“, berichtet sie. Wühlarbeit leisteten auch die Schweine, nach und nach wuchs der Nutzgarten auf 200 Quadratmeter an. Hinzu kam ein Kartoffelacker, in diesem Jahr wurde zudem ein Beeren-Garten angelegt, ein Spargel-Beet ist in Planung. Ställe säumen Sandstein-Villa: Raum genug bietet das ein Hektar große, zur Hälfte gepachtete Gelände samt Sandstein-Villa, selbstgebauten Ställen und Scheune nicht nur für Flora, sondern auch für Fauna. Mehr als 100 Haus- und Nutztiere bevölkerten zeitweise das Grundstück. Zum aktuellen Tierpark gehören Ziegen, Hühner, Gänse, Enten, Perlhühner, Lämmer, Ziegen, Kaninchen, zwei Husumer Protestschweine und ein Bentheimer Schwein. Meerschweinchen sollen Ratten, die Hunde den Fuchs vom Stall der mit Biogetreide gefütterten Hühner fernhalten. Pfauen und Katzen runden das Bild ab, der Naturschutzbund hat das Haus als Schwalben- und Fledermausfreundlich ausgezeichnet. Berührungsängste haben die gechillt wirkenden Stall- und Haustiere nicht. Fast alle Nutztiere sind auch zum Verzehr bestimmt, Schoe und Wehrt lassen in Bodensee schlachten. „Wir gehen fast nie essen, kaufen allenfalls Fisch, Nudeln und Milchprodukte hinzu, gönnen uns gelegentlich auch mal eine Banane oder Mango, obwohl das Flugobst ist“, sagt Scho: „So wissen wir, was auf den Tisch kommt, und es schmeckt einfach.“ Der Sonntagsbraten sei wieder etwas ganz Besonderes geworden. „Wenn wir Wild essen wollen, tauschen wir mit Jägern – oder eine Weihnachtsgans gegen Wein“, ergänzt Wehrt. Seine Lebensgefährtin führt ein Gartenbuch mit Pflanzplänen, setzt auf alte Sorten wie Maulbeerbäume, schwärmt von Esskastanien, der Pimpernuss, deren Früchte früher für Rosenkränze verwendet wurden, oder den essbaren Topinamur-Knollen. Tipps und Anregungen kommen auch von Florian, der die Waldorfschule besucht und bei der Bewirtschaftung mitzieht. Marmeladen, Mus, Äppelwoi und Säfte werden selbst produziert, der Keller steht voller Weckgläser. „Organisation ist alles“: Klingt nach Öko-Landkommune, ist es aber nicht. Scho und Wehrt sind berufstätig, betreiben in Göttingen ein Autohaus mit EU-Reimporten. Woher nehmen sie die Zeit für Tiere und Garten, für Aussaat, Pflege, Rückschnitt, Ernte und Einmachen? Die Versorgung der Tiere sei unproblematisch, sagt Wehrt. Morgens werden die Ställe geöffnet, Futter und Wasser verteilt. Wenn die Tiere größer sind, können sie tagsüber auf dem Grundstück frei herumlaufen. Bis zu eineinhalb Stunden am frühen Morgen und eine knappe Stunde nach Feierabend nennt Wehrt als täglichen Zeitaufwand. Alles Weitere werde am Wochenende erledigt. Das funktioniere nur, wenn alle an einem Strang ziehen. „Organisation ist alles, vom Sortieren des Saatguts bis zur Ernte“, sagt Scho. Am aufwändigsten sei das Einmachen im Herbst, weil es konzentriert komme. „Wir machen wenig Urlaub – auch wegen der Versorgung der Tiere, verbringen lieber Zeit im Garten“, ergänzt Scho: „Andere Freizeitaktivitäten bleiben auf der Strecke. Doch wenn man abends auf der Terrasse sitzt, fehlt einem nichts.“ Immer mehr Menschen würden den Wert einer eigenen Scholle, den die Kriegsgeneration noch zu schätzen wisse, wiederentdecken. Das zeige sich auch bei den Streuobstwiesen-Festen oder Pflanzentauschbörsen in Bösinghausen. Ausgleich durch Gartenarbeit: „Tausch & Plausch“ geht in diesem Jahr wegen Corona ohne Plausch über die Bühne. Den Lockdown samt Schließung der Autohäuser haben Scho und Wehrt genutzt, um Liegengebliebenes zu erledigen und eine Bank für Besucher zu bauen. Viele Familien hätten sich in dieser Zeit am Zaun verteilt, um sich die Tiere anzuschauen. Die Beete werden zurzeit mit Sprenkleranlagen bestückt, nachdem im Vorjahr 250 Meter Wasserleitung verlegt wurden – auch wegen der zunehmenden Trockenheit. Trotz aller Aufgaben findet Wehrt noch Zeit, sich im Vorstand des Heimatvereins zu engagieren,, der gerade mit dem Landwirtschaftsmuseum auf dem Gutshof in Waake umzieht. Die Garten- und Stallarbeit betrachtet er als Ausgleich: „Wenn es für mich Arbeit wäre, würde ich es nicht machen.“ „Wir können Selbstversorgung jedem, der über eine ausreichende Fläche verfügt, nur empfehlen“, ist sich das Paar einig: „Eine leckere Mahlzeit ohne Zukäufe entschädigt für alles.“ Der Wunsch nach einem naturverbundenen Leben, das in Landlust-Magazinen zelebriert wird, erfährt in Corona-Zeiten einen weiteren Aufschwung. Die Zahl der Selbstversorger steigt, der Schrebergarten wird immer beliebter. Das bestätigt Klaus Matschuk. „Bei uns sind ein Drittel Nutzfläche vorgeschrieben“, sagt der Vorsitzende des Kleingartenvereins Geismar mit 96 Parzellen: „Viele haben die Nutzfläche inzwischen erweitert.“ Auch die Verteuerung durch die Krise spiele dabei eine Rolle. Pro Jahr würden nur wenige Gärten frei, inzwischen gebe 45 Bewerbungen: „Wir können keinen mehr auf die Warteliste aufnehmen.“ Die Selbstversorger-Szene reicht von Gemeinschaftsprojekten wie dem „Besserwelthof“ in Fredelsloh bis zu Gartenbesitzern, die verstärkt auf Obst und Gemüse, Beeren und Kräuter setzen. Detaillierte Tipps – von der Wachtelhaltung über Saftherstellung, vom Gewächshaus bis zur Hausapotheke – liefern Magazine und Internet-Plattformen. Lesen Sie auch: Ansturm auf Schrebergärten in Göttingen Selbstversorger – ein Leben im Energiesparmodus Landlust und Landfrust im ländlichen Raum Von Kuno Mahnkopf

Autarkie durch Ackern - Corona-Krise beflügelt den Trend zur Selbstversorgung