Seulinger Roller-Oldies feiern Jubiläum

Dieter Jagemann sitzt am Wohnzimmertisch, vor sich ausgebreitet einige Fotoalben. Die Sonne scheint durchs Fenster, die Temperaturen sind frühlingshaft, ein bisschen zu früh in diesem Jahr. „Eigentlich bestes Rollerwetter“, sagt der Seulinger. Er meint das ernst. Obwohl der Schnee noch nicht überall geschmolzen ist, habe einer seiner Freunde gestern schon mit laufendem Zweitakt-Motor vor der Tür gestanden. Jagemanns Suzuki Burgman 125 mit ihren über 30000 Kilometern auf der Uhr ist noch im Winterschlaf. Insgesamt sind sie zwölf Männer im besten Alter – jenseits der 70er-Grenze. Der Älteste mit 83 Jahren ist Franz Beuleke. Jagemann wird, wie zwei seiner Freunde, in diesem Sommer 80 Jahre alt. Die Truppe, die sich selbst die Seulinger Roller-Oldies nennt, feiert gleichzeitig ihr 25-Jähriges. Eigentlich reichlich Grund zu feiern, wenn Corona nicht wäre. „Das Ganze wird jetzt halt verschoben, aber sicher nicht vergessen“, sagt der doppelte Jubilar. Die Oldies würden voller Ungewissheit, aber auch voller Optimismus in die Saison 2021 blicken. Roller war uncool: Er ist der Einzige, der seit den Anfängen dabei ist. Springen wir in das Jahr 1995: Der Ursprung der Seulinger Roller-Begeisterung liegt fernab des heimischen Eichsfelds. Damals hatte es den mittlerweile verstorbenen Franz Busch mit seiner Frau Ulli im Urlaub nach Kreta verschlagen. Die beiden hatten die griechische Insel auf einer geliehenen Vespa erkundet und dabei offenbar so viel Spaß gehabt, dass nach der Rückkehr ein eigener Roller her musste. Und so stand schon ein Jahr später ein Modell des taiwanesischen Herstellers Kymco auf dem Hof. Anfangs sei Franz dafür belächelt worden, erinnert sich Jagemann. „Damals fuhr man Motorrad, wenn man cool sein wollte.“ Er selbst habe aber keine Berührungsängste gehabt. Seit seiner Jugend sei er Moped gefahren. Ein altes Schwarz-Weiß-Foto zeigt ihn in den späten 1950-ern mit chromglänzender Zündapp und Haartolle. So machten also Franz Busch, sein Bruder Edwin und Jagemann 1996 von Seulingen aus die ersten Rollertouren. „Ich fuhr damals mit meiner alten Simson in der Mitte, damit sie mir helfen können, wenn ich liegenbleibe. Da ging kein Licht, und die Bremse war auch nicht in Ordnung.“ Ausflüge bis in die Schweiz: Die Ausfahrten der drei blieben nicht unbemerkt. Nach und nach gesellten sich mehr junggebliebene Rollerfreunde hinzu. Ihnen allen gemeinsam: Sie besaßen den alten 3er-Auto-Führerschein, der es ihnen erlaubte, ohne weitere Fahrprüfung auch Zweiräder bis 125 Kubikzentimeter zu fahren. Und das taten sie mit wachsender Begeisterung. Schnell erweiterte sich auch der Aktionsradius. Es ging auf mehrtägige Touren durch Deutschland und sogar bis in die Schweiz. Die Fotoalben auf dem Tisch dokumentieren viele dieser Ausflüge. Die Bilder zeigen historische Innenstädte, Museen, schöne Natur und andere Sehenswürdigkeiten – mittendrin immer eine gut gelaunte Gruppe von ergrauten Herren in Motorradkleidung. „Wir sind schon eine tolle Gemeinschaft“, sagt Jagemann beim Betrachten der Alben. Ein Rollerclub seien sie allerdings nie gewesen: „Da hatten wir keine Lust zu.“ Sie brauchten keine Vereinsmeierei, um gemeinsam ihrem Hobby zu fröhnen. Ein paar Regeln gibt es trotzdem: So ist beispielsweise Rollerfahren in Seulingen Männersache. Und über Neuankömmlinge entscheiden alle gemeinsam. Geplanten Touren: Im Laufe der Jahre mussten sich die Oldies mittlerweile von einigen Freunden verabschieden. Andere kamen hinzu, darunter auch Werner Becker und Peter Muthig. Die beiden sind heute das logistische Herz der Truppe. Becker arbeitet die Routen aus, zu denen die Oldies jeden Dienstag aufbrechen. Muthig fotografiert und protokolliert die Unternehmungen. Als Beispiel hier ein kleiner Auszug aus seiner Aktivitätentabelle vom Herbst 2020: „8. September, Drei Annen-Hohne, 155 Kilometer, 15. September, Unstrut Quelle, 95 Kilometer. 22. September, Hoher Meißner, 165 Kilometer.“ Nur drei von jährlich über 30 Touren. Muthig vermerkt außerdem penibel, wer von den Oldies dabei war. „Ausreden gibt es eigentlich keine. Wir versuchen sogar, unsere Arzttermine so zu legen, dass der Dienstag frei ist zum Rollerfahren.“ Und manch einer ignoriere dabei auch schon mal den ärztlichen Rat, mal auf eine Tour zu verzichten. „Wir sind halt nicht mehr die Jüngsten“, sagt Jagemann und grinst. Das sei aber für einen echten Roller-Oldie sicher kein Argument, um den Roller in der Garage zu lassen. Mettwurst und Gurken: Wie läuft ein solcher Dienstag ab? Man trifft sich zu einer fest verabredeten Zeit und verständigt sich auf eine der vorbereiteten Touren zu einem Ausflugsziel in der Umgebung. Regelmäßige Pausen sind eingeplant. Gern genommen sind auch Zwischenstopps an Cafés oder Bäckereien für einen leckeren Kaffee und ein Stück Kuchen. „Manchmal haben wir unsere eigene Brotzeit dabei“, erzählt Jagemann. Dann zaubert ein Mitfahrer eine Mettwurst aus dem Topcase, ein anderer hat Gurken dabei, ein dritter das alkoholfreie Bier. Die Oldies sind Genießer. Für die Fahrt selbst gibt es feste Regeln. Immer wird in Kolonne gefahren, Becker gibt den „Frontmann“. Werden sie durch Ampeln oder Verkehrsaufkommen getrennt, warten die vorderen Fahrer auf die Nachzügler. Es geht gemütlich zu, gerast wird nicht. Auch wenn die Fahrzeuge durchaus höhere Geschwindigkeiten hergeben würden. „Wir wollen lieber die Strecke genießen und immer unfallfrei zurückkommen.“ Wenn möglich werden Autobahnen und Großstädte gemieden. Und schlechtes Wetter eigentlich auch. „Wir sind schon eher Schön-Wetter-Fahrer“, gibt Jagemann zu und blickt noch einmal aus dem Fenster auf das frühlingshafte Rollerwetter mitten im Februar. In den Startlöchern: Für die bevorstehende Jubiläumssaison gibt es mit dem Corona-Virus nun leider eine weitere unkalkulierbare Variable. Es sei schwer vorherzusagen, wann es das erste Mal losgehen kann. Noch ist die Liste mit den Unternehmungen für 2021 leer. Noch beschränkt sich die Kommunikation auf die WhatsApp-Gruppe, in der sich die Oldies täglich austauschen. Noch ist nicht klar, wie viele Kilometer auf Jagemanns alter Suzuki in diesem Jahr dazukommen. Es hängt davon ab, wann die Maßnahmen gelockert werden. Die Seulinger Roller-Oldies stehen jedenfalls in den Startlöchern. Von Markus Scharf