die Grünen-Politikerin Viola von Cramon ist seit halbem Jahr Abgeordnete des EU-Parlaments

„Unsere Demokratie kann nur funktionieren, wenn sich alle irgendwo engagieren“, betont Viola von Cramon im Tageblatt-Gespräch. Im Mai erzielten die Grünen im Landkreis Göttingen 25,3 Prozent der Stimmen. Damit bekam die Grünen-Politikerin mit ihrem Listenplatz 19 einen Sitz im EU-Parlament. Am 2. Juli fand die konstituierende Sitzung in Straßburg statt – „ein sehr feierlicher und schöner Akt“, wie die 49-Jährige sagt. „Die Arbeit auf lokaler Ebene ist mindestens genauso wichtig, wie die Arbeit, die wir in Europa machen.“ Nach sechs Monaten als EU-Parlamentarierin bezeichnet sie die Aufgabe als „unglaublich reizvoll, weil jeder Abgeordnete seine Nische finden kann, wo er auch wirklich etwas bewirken kann“. Das vielfältige, bunte Europa mittendrin erleben zu können, sei nach wie vor „mit Gänsehaut“ verbunden, schildert von Cramon ihre ersten Eindrücke. Bei den Wahlen seien die Grünen „deutlich stärker geworden“, allerdings regional nicht überall. Im Osteuropäischen Raum gebe es beispielsweise keinen Grünen Abgeordneten. Sechs Stunden von Haustür zu Haustür: Das erste halbe Jahr als Europaabgeordnete war „vollkommen verrückt“, so von Cramon. Die Anwesenheitspflicht in Brüssel ist mit dem Bundestag nicht zu vergleichen und das Pendeln nach Brüssel – „von Haustür zu Haustür sechs Stunden mit der Bahn“ – sei „eine ganz andere Hausnummer als in zweieinhalb Stunden nach Berlin zu fahren“. „Sehr viel Zeit“ für den Wahlkreis bleibe angesichts von Plenarwochen und anderen Verpflichtungen in Brüssel oder Straßburg nicht, berichtet von Cramon. Im gesamten Halbjahr gab es gerade einmal eine Wahlkreis-Woche, im ersten Halbjahr 2020 werden es nach derzeitiger Planung drei Wochen sein. „Die Möglichkeiten hier vor Ort zu sein, sind sehr begrenzt“, sagt die EU-Abgeordnete, die in Waake wohnt. „Es ist mir aber dennoch ein großes Anliegen, möglichst viel von Europa hier her zu tragen“. Um Wissenschaft und Innovationen kümmern: Die Agrarwissenschaftlerin von Cramon ist als EU-Abgeordnete im Industrie-, Technologie-, Wissenschafts- und Energieausschuss – unter anderem „wegen Göttingen als Wissenschaftsstadt“. Bislang habe sie bereits einige Universitäten und verschiedene Cluster besucht, die sich mit Hilfe von EU-Geldern gegründet haben, um Innovationen zu kreieren, berichtet sie. Das sei für sie „sehr spannend“, weil Göttingen ja eine relativ wissenschaftsstarke Region sei. „Für Niedersachsen ist es wichtig, dass wir uns stärker um Wissenschaft und Innovationen kümmern“, so von Cramon. Vieles, was in Europa entschieden wird, wirkt sich auch regional aus, beispielsweise wenn die Kommune beim Bau eines Kindergartens Brandschutz- und andere Auflagen erfüllen muss. Von Cramon plädiert für eine differenzierte Betrachtung. So profitiere „jeder einzelne“ vom Verbraucherschutz, „egal, wo eine Person lebt“. Von Cramon macht klar: „Vieles von dem, was uns hier vor Ort stört, ist nicht unbedingt der Verordnung ursprünglich in der EU geschuldet“, sondern meistens der Umsetzung oder Handhabung in den einzelnen Mitgliedsstaaten „verkompliziert worden“. Dennoch sagt die südniedersächsische EU-Abgeordnete: „An vielen Stellen muss man entschlacken.“ Es bestehe die Hoffnung, im Vorfeld des nächsten mehrjährigen Finanzrahmenplans an der einen oder anderen Stelle Sachen erleichtern zu können. Beispielsweise seien einige Sozialfonds für viele Personen gar nicht zugänglich oder extrem aufwendig zu beantragen, wie von Trägern oder den Gewerkschaften berichtet werde. Das sei „nicht in unserem Sinne“ und müsse verbessert werden. Wahlkreisbüro in Heiligenstadt: Im September eröffnete von Cramon in Heilbad Heiligenstadt ein Wahlkreisbüro. Warum gerade dort? „Zum einen habe ich immer schon einen sehr engen Kontakt ins Eichsfeld gepflegt“ – auch über ihre Kandidatur 2014 als Bürgermeisterin in Duderstadt hinaus, sagt die Grünen-Politikerin. Sie erinnert an den „sehr engagierten“ Kommunalwahlkampf im Kreis 2016 und Themen wie etwa die Ortsumfahrungen. Zum anderen sei es ihr immer schon ein Anliegen gewesen, auch über Bundesländergrenzen hinweg zu wirken und im ländlichen Raum Menschen zu erreichen und für Europa zu gewinnen. Insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern seien die Unsicherheiten und Fragen zu Europa noch größer. Bei den Veranstaltungen vor Ort sei festzustellen, „dass unsere Rechnung, nämlich einen stärkeren Austausch zwischen Ost und West zu organisieren, sehr gut aufgeht“. Landesbus „ein Riesengewinn“: Die Erweiterung des Busangebots in der Region, insbesondere durch den Landesbus zwischen Göttingen und Duderstadt, bezeichnet von Cramon als einen „Riesengewinn“, wenngleich die Preisstruktur angepasst werden müsse. Sie appelliert insbesondere an Pendler, diesen auch zu nutzen. Allerdings sieht die Grünen-Politikerin den öffentlicher Nahverkehr jenseits der Hauptrouten durchaus aus Problem. In der Frage der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen könnten zum Beispiel mit Europäischen Fonds Verbesserungen erreicht werden. „Wir brauchen eine Gemeinschaftsaufgabe Kommunale Daseinsvorsorge“, so von Cramon. Dazu zähle neben Bildung und Gesundheit auch Mobilität als wichtiger Faktor. Viola von Cramon wurde 1970 in Halle in Westfalen geboren, machte ihr Abitur 1989 in Bielefeld und studierte im Anschluss Agrarwissenschaften. Sie ist verheiratet und hat vier Kinder. 1993 bis 2003 arbeitete sie in internationalen Projekten in Russland, Weißrussland, Ukraine, Estland, Polen und China mit. Seit 2001 ist sie Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen, für die sie sich seit 2004 in der Landespolitik in verschiedenen Funktionen als Sprecherin engagiert. Von 2009 bis 2013 war von Cramon als Direktkandidatin für den Wahlkreis 53 Goslar-Northeim-Osterode Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Auch in der Kommunalpolitik ist die Grünen-Politikerin keine Unbekannte. Von 2001 bis 2006 und noch einmal von 2016 an gehörte sie dem Samtgemeinderat Radolfshausen an, aus dem sie nach ihrer Wahl zur Europaabgeordneten ausgeschieden ist. Im Kreistag Göttingen hatte von Cramon von 2003 bis 2006 ein Mandat. Im Jahr 2014 trat sie bei der Bürgermeisterwahl in Duderstadt gegen den damaligen Amtsinhaber Wolfgang Nolte (CDU) an und erzielte 39,9 Prozent der Stimmen. Die Autorin erreichen Sie per E-Mail an b.eichner-ramm@eichsfelder-tageblatt.de oder unter Telefon 05527/9499712. Von Britta Eichner-Ramm

Erste Eindrücke aus dem Europaparlament - So hat Viola von Cramon die ersten Monate als EU-Abgeordnete erlebt