Corona-Hotspot Schlachthof: Virologen zeigen sich selbstkritisch

Angesichts der erneuten Corona-Masseninfektion in einem einem Hähnchen-Schlachthof in Lohne (Kreis Vechta) schlagen Virologen selbstkritische Töne an. Betriebe, in denen sehr dicht zusammen gearbeitet werde, etwa Schlachthöfe oder Logistikunternehmen, habe man zunächst nicht so sehr als mögliche Corona-Hotspots im Blick gehabt wie Krankenhäuser, Kitas oder Schulen, sagt beispielsweise der Virologe Prof. Matthias Stoll von der Medizinischen Hochschule Hannover. Hinzu kämen die oft prekären Lebensverhältnisse der Arbeiter. „Corona bringt das ans Licht, was wir viele Jahre schulterzuckend akzeptiert haben“, sagt Stoll. Es sei ein Unding, dass sich mehrere Menschen kleine, oft schmutzige Zimmer teilen müssten, für die sie dann auch noch eine horrende Miete zahlen müssten. Bedingungen im Schlachthof für das Virus ideal: In Schlachthöfen sind wiederholt Corona-Massenausbrüche festgestellt worden, nicht nur bei Tönnies in Nordrhein-Westfalen, auch bei Betrieben in Niedersachsen. In den Schlachthöfen seien die Bedingungen für das Virus geradezu ideal, sagen die Wissenschaftler. Der Erreger überlebt in den gekühlten Räumen deutlich länger, darum sei die Infektionsgefahr besonders hoch. Zudem werde der Mindestabstand bei der Arbeit in den Zerlegebetrieben nicht eingehalten, was das Risiko für die Arbeiter zusätzlich erhöhe. Allgemein breiteten sich Erkältungskrankheiten in gekühlten Räumen effektiver aus, sagt Stoll. Hinzu komme, dass die Menschen körperlich schwer arbeiteten, wie sein Kollege Prof. Thomas Schulz erläutert, ebenfalls Virologe an der Medizinischen Hochschule Hannover. Es gebe keinen Luftaustausch, die vorhandene Luft werde nicht gefiltert, sondern zirkuliere nur mit sich selbst: „Das ist wie in einem Kühlschrank.“ Getrennt arbeiten – gemeinsam leben: Die Gewerkschaft Verdi sieht die Masseninfektionen bei UPS in Langenhagen und im Amazon-Logistikzentrum in Winsen/Luhe als Beleg dafür, dass auch die Lebensverhältnisse der Arbeiter die schnelle Ausbreitung des Virus begünstigten. „Gerade Geflüchtete, die häufig in Verteilzentren arbeiten, werden von den Arbeitgebern in Sammelunterkünften untergebracht, zu mehreren auf einem Zimmer. Abstand ist dort schon praktisch nicht darstellbar, und Hygiene nicht automatisch Priorität“, sagt Verdi-Sprecher Matthias Büschking. Es sei sinnlos, die Arbeiter in getrennten Gruppen arbeiten zu lassen, wenn sie nach Feierabend gemeinsam im Bus nach Hause führen oder zu dritt oder viert in einem Zimmer schliefen. „UPS, Amazon & Co. müssen verpflichtet werden, bei der Arbeit und in den Unterkünften streng auf Infektionsschutz zu achten. Ohne regelmäßige Kontrollen scheint es nicht zu gehen“, sagt Büschking. Bei UPS in Langenhagen hatte die Region Hannover Anfang Juni 161 Infizierte verzeichnet. Bei Amazon waren im März und April 53 Mitarbeiter an Corona erkrankt. Virologe Stoll plädiert zudem für wiederholte Reihentests in Betrieben, in denen die Ansteckungsgefahr deutlich erhöht ist. So war auch der Wiesenhof-Fall in Vechta ans Licht gekommen, weil bei mehr als 1000 Abstrichen 66 als positiv auffielen. Weniger Probleme in der Landwirtschaft: Auffällig sei, dass es in anderen Branchen, in denen die Arbeiter oft ebenfalls in Sammelunterkünften untergebracht seien, etwa Erntehelfer in der Landwirtschaft oder auf dem Bau, weniger Infektionen gebe, sagt Stoll. Vermutlich senke die Arbeit an der frischen Luft das Ansteckungsrisiko, während die Arbeit in geschlossenen Räumen oder Hallen, in denen man sich vielleicht auch noch etwas zurufen müsste, die Infektionsgefahr erhöhe. Lesen Sie auch: Landkreis Vechta will Schlachthof trotz Corona-Ausbruch nicht schließen Sein Kollege Schulz sagt, auch in Sammelunterkünften lasse sich das Risiko minimieren, etwa wenn nicht mehrere Menschen gleichzeitig Duschen und Toiletten nutzten. In Mehrbettzimmern ließen sich die Hygenieregeln aber nicht einhalten, dazu seien Einzelzimmer nötig. „Den Betroffenen keinen Vorwurf machen“: Stoll warnt eindringlich vor Schuldzuweisungen an die Betroffenen: „Das Virus trifft die Menschen, die nur begrenzte Möglichkeiten haben, ihm aus dem Weg zu gehen, umso härter.“ Flüchtlinge hätten keinen eigenen Garten, in den sie sich zurückziehen könnten. Andere Freizeitaktivitäten seien entweder derzeit verboten oder zu teuer. Vielen bliebe nichts anders übrig, als stundenlang in der Sammelunterkunft zu bleiben. Das dürfe ihnen nicht zum Vorwurf gemacht werden. Von Saskia Döhner