Hildesheim: Vorwürfe wegen Vertuschung von Belästigung gegen Bischof Wilmer

In der katholischen Kirche gilt er als Hoffnungsträger des Reformflügels. Er hat sich für eine konsequente Aufarbeitung der Missbrauchsskandale starkgemacht. Jetzt jedoch sieht Heiner Wilmer, seit 2018 Bischof von Hildesheim, sich selbst mit Vorwürfen konfrontiert. Eine heute 29-jährige Frau wirft ihm vor, in seiner Zeit als Schulleiter im Emsland einen Fall sexueller Belästigung durch einen Lehrer unter den Teppich gekehrt zu haben. Die Anschuldigungen lassen sich weder zweifelsfrei beweisen noch ohne Weiteres widerlegen. Teils schildern die Beteiligten grundverschiedene Versionen der 14 Jahre zurückliegenden Ereignisse – und welche davon der Wahrheit näher kommt, ist nicht eindeutig auszumachen. Die Vorfälle sollen sich im Jahr 2007 ereignet haben. Damals war die Schülerin 15 Jahre alt und besuchte das katholische Gymnasium Leoninum in Handrup (Kreis Emsland). Dort sei sie über einen längeren Zeitraum von einem Lehrer sexuell belästigt worden, sagt sie. Er habe sie häufig daheim angerufen, ihr seine Hand auf Oberschenkel und Hüfte gelegt oder anzügliche Bemerkungen über ihre Unterwäsche gemacht. „Wiederholt hat er mir gesagt, dass er mich sexuell attraktiv finde und mich zu sich nach Hause eingeladen“, sagt die Frau. Er habe sie auch gefragt, ob sie schon Sex mit ihrem Freund gehabt habe. „Unter den Teppich gekehrt“: Als ihre Eltern davon erfuhren, hätten sie auf ein Gespräch mit der Schulleitung gedrängt, berichtet die Frau. Als es einige Tage darauf dazu kam, habe der damalige Schulleiter Heiner Wilmer ihnen eröffnet, dass der Lehrer sich mittlerweile selbst bei ihm gemeldet und sein Fehlverhalten bekannt habe. „Dass er sich zufällig kurz vorher aus freien Stücken bei der Schulleitung offenbart haben sollte, hielten wir für unglaubwürdig“, sagt die Mutter der damaligen Schülerin. Wilmer habe die Vorfälle damals heruntergespielt. Schließlich habe er den Lehrer hereingerufen, der offenbar schon darauf gewartet habe. Dieser habe nichts abgestritten und einen Teil der Vorwürfe zugegeben. „Wilmer gab sich damit zufrieden“, sagt die Mutter. Ihm sei vor allem am guten Ruf der Schule gelegen gewesen, glaubt sie. „Eigentlich hätte der Lehrer gehen müssen, aber die Sache wurde unter den Teppich gekehrt.“ Die ehemalige Schülerin sagt, sie habe sich vom heutigen Bischof eingeschüchtert gefühlt. Dieser habe ihr vorgehalten, dass sie dem Lehrer Ärger bereiten wolle, da er sie schlecht benotet habe. „Wir wurden unter Druck gesetzt, es war eine verunsichernde Situation für mich“, sagt sie. „Als Schulleiter hätte er eine Verantwortung gehabt, mich zu schützen.“ Der mittlerweile verstorbene Lehrer unterrichtete nach dem Vorfall noch lange an der Schule. „Das hätten wir nicht toleriert“: Auch der damalige stellvertretende Schulleiter war bei dem Gespräch dabei und erinnert sich gut daran, allerdings in Teilen anders als die Familie. „Wenn uns in dem Gespräch die behauptete Intensität der Übergriffe deutlich gemacht worden wäre, hätten wir sicher andere Entscheidungen getroffen“, sagt er, „ein solches Verhalten hätten wir nicht toleriert.“ Seiner Wahrnehmung nach sei es eher um unangebrachte körperliche Nähe als um sexuelle Belästigung gegangen. Daran, dass der Lehrer im Verlauf des Gesprächs dazu gebeten wurde, erinnert er sich nicht. Ein solches Verhalten wäre aber unüblich und unangebracht gewesen, sagt er. „Mir schien die Sache am Ende des Gesprächs so geklärt, dass alle mit Verlauf und Ergebnis zufrieden waren“, sagt Wilmers damaliger Stellvertreter. Er sei Mitgliedern der Familie anschließend mehrfach privat begegnet. „Dabei hatte ich nicht den Eindruck, dass etwas zwischen uns steht.“ Eine weitere dienstliche Kontaktaufnahme seitens der Eltern mit ihm habe es danach nicht gegeben. Strafanzeige erstattete die Familie damals nicht. Auch als später in den katholischen Bistümern unabhängige Ansprechpersonen für Missbrauchsfälle ihre Arbeit aufnahmen, machte die ehemalige Schülerin von dem Angebot nicht Gebrauch. „Darüber habe ich nie nachgedacht“, sagt sie. Disziplinargespräch mit dem Lehrer: Wie das Gespräch 2007 tatsächlich verlaufen ist, lässt sich nach 14 Jahren kaum noch genau rekonstruieren. Haben die Beteiligten teils aneinander vorbei geredet? Hat die Schülerin aus Scham oder Angst manches eher angedeutet als deutlich benannt? Oder hat Schulleiter Wilmer nicht genau hingehört? Wollte er das Thema lieber rasch vom Tisch haben? Der Bischof bestätigt auf Anfrage der HAZ, dass es zu dem Gespräch kam. Anhand seines Terminkalenders hat er den Zeitpunkt rekonstruiert – den 6. Februar 2007, 19 Uhr. Allerdings schildert auch er den Verlauf anders als die Familie: „Gegenüber den Eltern haben sowohl ich als auch mein Stellvertreter die körperlichen und verbalen Übergriffe des Lehrers sehr deutlich verurteilt und als nicht hinnehmbar kritisiert“, betont Wilmer. Mit den Eltern sei vereinbart worden, dass er mit dem Lehrer ein Disziplinargespräch führen werde. Damit seien diese einverstanden gewesen. „Auch später wurde dieses Einverständnis nie relativiert“, sagt Wilmer. Bischof bedauert Versäumnisse: Gleich danach habe er mit dem Lehrer in seinem Büro das Disziplinargespräch geführt. Dieser habe die Vorwürfe dabei eingeräumt. „Ich habe ihn mündlich abgemahnt und ihm mitgeteilt, dass er ab sofort unter meiner strengen Beobachtung und der meines Stellvertreters steht“, sagt Wilmer. „Dies hat dazu geführt, dass er sein Verhalten nach meiner Kenntnis abgestellt hat.“ Der Pädagoge sei danach nicht mehr als Lehrer der betroffenen Schülerin tätig gewesen. In seiner Zeit als Bischof hat Wilmer Vorwürfe gegen Priester seines Bistums konsequent offengelegt – etwa gegen den früheren Propst von Duderstadt oder den 2019 verstorbenen Priester Georg M., der sich sexuell an einem Jungen vergangen haben soll. Lesen Sie auch: Ein Kommentar zum Thema Im Rückblick auf die Ereignisse von 2007 zeigt Wilmer sich auch selbstkritisch: „Aus heutiger Sicht hätte ich die damalige Schülerin trotz des Gespräches mit den Eltern und der schulrechtlich korrekten Disziplinarmaßnahme gegenüber dem Lehrer zusätzlich mit einer Vertrauenslehrerin oder einer Pädagogin aus dem Team der Schulseelsorge in Kontakt gebracht“, sagt er. Außerdem hätte er eine psychologische oder seelsorgliche Betreuung vorgeschlagen. „Das ist damals nicht geschehen“, sagt der Bischof. „Das bedauere ich.“ Von Simon Benne