Schule und Corona: "Viele Lehrer sind am Rande ihrer Kräfte", sagt GEW-Chefin Laura Pooth

Frau Pooth, wie belastet sind die Lehrkräfte in diesem Schuljahr? Immens, die Arbeitsbelastung für Lehrkräfte war schon vor der Corona-Krise hoch, darauf haben wir ja auch immer hingewiesen. Aber durch die Pandemie hat die Belastung noch mal zugenommen, das ist wie ein Quantensprung. Viele Lehrkräfte sind am Rande ihrer Kräfte und völlig erschöpft. Was belastet sie am meisten? Da sind zum einen diese Hygienevorschriften, die sie ständig kontrollieren müssen. Sie müssen Kinder vom Schulhof abholen und in den Klassenraum bringen, sie müssen überprüfen, dass die Schüler in den eingegrenzten Bereichen bleiben und den Sicherheitsabstand einhalten. Wenn sie dann sehen, dass all das, worauf sie am Vormittag geachtet haben, ad absurdum geführt wird, sobald die Schüler die Schule verlassen haben und in den überfüllten Schulbussen sitzen, scheint die ganze Mühe umsonst. Und bei all der Hektik haben die Lehrkräfte noch nicht einmal Zeit zum Luftholen. Haben sie denn keine Pausen? Erholungszeiten gab es schon früher im Lehreralltag kaum, jetzt ist das Wenige noch weiter geschrumpft. Die Lehrerzimmer sind zu klein, viele müssen auf das Außengelände und andere Gebäudeteile ausweichen. Dann herrscht Maskenpflicht, und wenn sie den Schutz zum Essen oder Trinken mal kurz abnehmen, kommt schon der Hinweis von den Schülern, dass sie doch Maske tragen sollen. Die Stimmung in den Kollegien droht zu kippen, das betrachte ich mit Sorge. Inwiefern? Die Lehrerzimmer sind ein Spiegelbild unserer Gesellschaft, es gibt die ganz Ängstlichen und die, denen die ganzen Einschränkungen viel zu weit gehen. Panik auf der einen, Leugnung auf der anderen Seite. Da werden oft hitzige Diskussionen geführt. Gerade das System Berufsbildende Schule steht kurz vor dem Kollaps. Warum sind die Probleme dort besonders groß? Hier gibt es seit jeher besonders viel Lehrermangel, und jetzt sind die Klassen besonders voll. Viele Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, fliehen in vollzeitschulische Bildungsgänge. Sie sind frustriert und haben keinerlei Perspektive. Laut Industrie- und Handelskammer sind in Niedersachsen in diesem Jahr 3500 Ausbildungsverträge weniger abgeschlossen worden als im Vorjahr, das ist ein Rückgang um ein Viertel. Wenn das so weitergeht, fehlen in Niedersachsen bald 8000 Lehrstellen. Mir haben Pädagogen berichtet, dass sie zwei Klassen gleichzeitig unterrichten müssen. Waren früher in einer Klasse mit 25 Schülern zwei schwierig, sind unter 25 Schwierigen jetzt zwei Lernwillige. Marode Schulgebäude, unzureichender Digitalausbau – die Corona-Krise hat wie unter einem Brennglas gezeigt, woran es hapert, heißt es immer. Ja, das stimmt, aber leider hat das Land keine Lehren aus den vergangenen Monaten gezogen. Welche denn zum Beispiel? Dass man in kleinen Lerngruppen viel besser lernt, dass Schüler sich über individuelle Rückmeldungen der Lehrer zu ihren Onlineaufgaben freuen. Viele Eltern sagen aber, dass das gar nicht so viele Lehrer gemacht haben. Wir wissen von zahlreichen Rückmeldungen, die von den Schülern sehr geschätzt wurden. Dennoch ärgert uns das pauschale Vorurteil, dass Lehrkräfte im Homeoffice abgetaucht sind. Das stimmt einfach nicht. Wie engagiert sie sind, zeigt doch auch, dass eigentlich 17 Prozent der Lehrkräfte zur Corona-Risikogruppe gehören und zu Hause bleiben könnten, tatsächlich aber nur 6 Prozent auch davon Gebrauch machen. Die anderen kommen trotzdem. Damit sie mit einem besseren Gefühl zur Schule kommen, sollen alle Pädagogen und andere Schulbeschäftigte im Landesdienst jetzt bis zu den Herbstferien zwei kostenlose Corona-Tests machen können, selbst wenn sie keine Symptome haben. Ist das nicht gut? Viele Kollegen haben sich das gewünscht, das stimmt, aber es bleibt nur eine Momentaufnahme. Und Ärzte sagen, dass es auch falsche positive Tests gibt, und wenn sich die häufen, dann kommt es vielleicht zu unnötigen Quarantänefällen. Das Kultusministerium betont, dass die Schulträger ja 100 Millionen Euro zusätzlich für Schulsanierungen und den Ausbau des Schülertransports zur Verfügung gestellt bekommen. Das ist doch ganz schön viel Geld. Das klingt vielleicht so, aber 100 Millionen Euro für 3000 Schulen in Niedersachsen sind nicht viel, schon mal gar nicht, wenn man bedenkt, dass die Schulsanierungen jahrzehntelang verschlafen worden sind. Zu kritisieren ist ja leicht. Haben Sie auch konkrete Lösungsvorschläge? Die Schulen sollten nicht noch mit zusätzlichen Leistungsstandserhebungen bei den Schülern belastet werden, die zentralen Abschlussarbeiten in Klasse neun und zehn könnten entfallen. Hätten wir übrigens die 5 Prozent Vertretungsreserve, die wir seit jeher fordern, dann könnte man auch die Lehrer, die als Risikopatienten im Homeoffice bleiben müssen, leicht kompensieren. Denn es ist ein Trugschluss zu glauben, dass sich Unterricht aus der Schule eins zu eins auf den Bildschirm übertragen lässt. Ich wünsche mir, dass der Wirtschafts- und der Finanzminister nicht in einem Atemzug die Missstände aufzeigen und im zweiten sagen, dass das Land Schulden zurückzahlen muss. Wir brauchen im großen Stil Investitionen in die Bildung. Laura Pooth ist seit 2017 Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Zuvor war sie sechs Jahre lang stellvertretende Vorsitzende. Pooth ist in Gifhorn aufgewachsen, hat Haupt- und Realschullehramt studiert und lebt heute mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn in Oldenburg. Von Saskia Döhner