Vor dem Landgericht Hildesheim hat am Freitag einer der spannendsten Betrugsprozesse der vergangenen Jahre begonnen. Verantworten muss sich der ehemalige Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft der Hilfsorganisation Arbeiter Samariter Bund (ASB) Hannover. Der 46-jährige Mohamend A. soll, gemeinsam mit Komplizen, Geldbeträge in Millionenhöhe abgezweigt haben. Zudem soll er dem Land unter anderem die Kosten eine neue Küche für sein Privathaus und den mehrmaligen Transport eines Flügels in Rechnung gestellt haben.
Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft Hannover wiegen schwer: Im Zusammenhang mit dem Betrieb von Flüchtlings-Notunterkünften durch den ASB soll der in Beirut geborene Deutsch-Libanese ab 2016 dem Land Niedersachsen insgesamt exakt 8 126 942,42 Euro in Rechnung gestellt haben.Dieses Geld ließ der 46-Jährige aber nicht an den ASB überweisen, sondern auf ein von ihm bei der Volksbank Hildesheimer Börde eingerichtetes Konto, auf das nur er Zugriff hatte.
Betriebsprüfung brachte Ungereimtheiten ans Licht
Über einen langen Zeitraum schöpfte niemand Verdacht, erst im Februar 2019 nahm die Polizei den Geschäftsführer nach Ungereimtheiten bei der ASB-Betriebsprüfung und Geldwäsche-Hinweisen von Banken fest und durchsuchte Privat- sowie Geschäftsräume.
Die Zahlen und dargestellten Abläufe aus der Anklage lesen sich wie eine nachträgliche Bestätigung eines Berichts des Landesrechnungshofs. Der war zu dem Ergebnis gekommen, dass während der Flüchtlingskrise 2015/2016 „ein geordnetes Verwaltungshandeln nur bedingt möglich“ war. Dieses Durcheinander sollen Mohamed A. und weiter Angeklagte gezielt ausgenutzt haben. Vor allem zulasten des ASB, wie auch diese Zahlen verdeutlichen: Die Johanniter erwirtschafteten durch die Flüchtlingsarbeit einen Gewinn von 8,5 Millionen Euro, dahinter folgten die Malteser (3,5 Millionen) und das Deutsche Rote Kreuz (2,3 Millionen) – der ASB fuhr einen Überschuss von lediglich 700 000 Euro ein, obwohl seine Leistungen mit denen der Johanniter vergleichbar waren.
Mohamed A. sitzt derzeit in Untersuchungshaft
Wegen der bestehenden Kontakte des Angeklagten Ex-ASB-Chefs in den Libanon sah das Gericht die Gefahr, dass er fliehen könnte, und steckte ihn als einzigen der insgesamt sechs Angeklagten in U-Haft. Um die zeitlichen Fristen einzuhalten, hat die Kammer das Verfahren aufgeteilt und gestern mit dem Prozess gegen den Hauptangeklagten sowie einen früheren ASB-Bereichsleiter und dessen Frau begonnen. Es sind noch weitere Taten und zwei weitere mutmaßliche Komplizen angeklagt, wann dieser Teil des Verfahrens beginnt, steht noch nicht fest.
Der Hauptangeklagte, der die gut 30-minütige Anklageverlesung in sich zusammengesunken verfolgte, soll zur Überzeugung der Staatsanwaltschaft 16 Taten begangen und dabei in neun Fällen gemeinsame Sache mit dem früheren Mitarbeiter gemacht haben. 1,3 Millionen sollen dabei für die Gründung einer eigenen Firma und den Kauf einer Krankentransport-GmbH geflossen sein. Die Frau des mutmaßlichen Mittäters habe sich, so die Staatsanwaltschaft, in fünf Fällen der Beihilfe schuldig gemacht, weil sie für die betrügerischen Überweisungen ihr Bankkonto zur Verfügung gestellt habe.
Mitangeklagter belastet Ex-ASB-Chef
Die Angeklagten äußerten sich gestern nicht zu den Vorwürfen – es wurde aber deutlich, welche Strategie der Verteidiger des 37-jährigen Mitangeklagten verfolgt: Sein Mandant habe vielleicht naiv gehandelt, so Joachim Baumann, nach seiner Darstellung sei er aber lediglich eine Art Befehlsempfänger gewesen und habe nicht wissen können, dass das Bankkonto, auf das die Millionen flossen, kein offizielles des Hilfsdienstes gewesen sei. Der Hauptangeklagte sei als Geschäftsführer beim ASB ein „Alleinherscher“ gewesen. „Sein Wort war Gesetz.“
Wilhelm-Michael Bruns, der Verteidiger des Hauptangeklagten, wies diese Aussagen als „unnötig falsche Behauptungen“ entschieden zurück. Sein Mandant will sich voraussichtlich am nächsten Verhandlungstag zu den Vorwürfen äußern. Wie aus der Anklage hervorgeht, soll sich der Hauptangeklagte auch private Ausgaben vom Land erstatten lassen haben. Unter anderem soll er auf ASB-Briefpapier Rechnungen für eine neue Küche und mehrfach den professionellen Transport eines Flügels ans Land geschickt haben. Diese Vorwürfe zeichnen das Bild eines Mannes, der im Laufe der Zeit eine ausgeprägte Selbstbedienungsmentalität entwickelt zu haben scheint.
Von Jan Fuhrhop