Deutsches Theater Göttingen: Intendant Erich Sidler im Interview

Die Spielzeit im Deutschen Theater Göttingen geht am Donnerstag zu Ende. Im Tageblatt-Sommerinterview hat Intendant Erich Sidler über die schwierige Saison gesprochen, die rekordverdächtig startete und dann von der Corona-Pandemie unsanft ausgebremst wurde. Tageblatt: Herr Sidler, wie ist die Spielzeit bei Ihnen gelaufen? Was hat Corona bei Ihnen verursacht? Sidler: Die Spielzeit ist geprägt davon, dass wir eine erste Hälfte hatten, die sehr erfolgreich war, weil wir zu einem neuen Zuschauerrekord aufgebrochen sind – sowohl, was die Auslastung als auch die numerische Zahl der Zuschauerinnen und Zuschauer anbelangt. Und die zweite Hälfte ist von diesem Erleben der Corona-Krise geprägt, das wir einerseits alle teilen, was aber jeder individuell auslegt. Für uns war das erst mal natürlich ein Schock, weil ein Theater, das geschlossen ist, kein Theater mehr ist. Von daher war es für uns ganz wichtig, sofort Mittel und Wege zu suchen, die Verbindung zum Publikum wieder herzustellen. Das haben wir mit der Inszenierung „Die Methode“ in der Tiefgarage gemacht. Haben das andere Theater nicht auch umgesetzt? Komischerweise waren wir die Ersten in der Bundesrepublik Deutschland, die wieder gespielt haben. Das fand ich ganz schön als Nebeneffekt. Aber ich habe auch gemerkt, dass Einschränkung der Mittel und Wege im kreativen Prozess, die Beschränkung, quasi auch stimulieren kann. Sie kann unter Umständen neue Gedanken, neue Wege aufmachen und kann daher auch kreativ befördern. Wie haben sie das Programm dann gestaltet? Für mich war das Theater im besten Sinne: Dass wir sofort versucht haben, auf das einzugehen, was die Menschen umtreibt: Isolation. Aber auch die Frage, was es bedeutet, wenn wir plötzlich Grundrechte hergeben. Welche Sensibilität als Folge dieses Prozesses vielleicht wichtig ist. Insofern würde ich jetzt am Ende der Spielzeit sagen: Schade, dass es nicht der Erfolg geworden ist, und schön, dass es ein anderer Erfolg geworden ist. Wie sind die Schauspieler mit dem Lockdown umgegangen? Am Anfang war erst mal große Verstörung da. Ich habe gemerkt, dass einige Kolleginnen und Kollegen Angst haben, Angst vor Erkrankung, aber auch Angst vor den Umbrüchen. Es gab sehr viel Emotion. Wir haben aber relativ schnell gesagt: Wir brauchen ein Konzept, wie wir weiterarbeiten können. Wie wir einerseits die Vorgabe der Stadt umsetzen, in die Kurzarbeit zu gehen, aber auf der anderen Seite zusehen, dass wir das, was wir zur Verfügung haben, auch nutzen. Wir haben die digitale Bühne jetzt endlich aufgerüstet und Projekte gefunden, die wir tatsächlich umsetzen konnten. Konnten Sie das schnell umsetzen? Selbstverständlich hat ein Theater immer Vorbereitungszeit. Man kann nicht von heute auf morgen irgendetwas machen, außer es wäre improvisiert. Das ist aber nicht wiederholbar. Ich habe am Anfang gemerkt, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler durchaus skeptisch sind gegenüber der Idee, jetzt in die Tiefgarage zu gehen und dort zu spielen. In der Probezeit und vor allem in der Vorstellungszeit habe ich aber gemerkt, wie es sie beflügelt. Es ist ja immer nur eine Schauspielerin, ein Schauspieler in direktem Kontakt mit einem Zuschauer oder einer Zuschauerin. Das ist auch etwas, das wir so noch nicht hatten. Das ist extrem intensiv. Das haben sich die Schauspieler gar nicht so vorstellen können, glaube ich. Schnell wieder in unser eigentliches Metier zu kommen, war für das Ensemble das Beste, was uns passieren konnte. Sie haben am Ende der Spielzeit noch zwei Premieren. Zuerst „Die Hauptstadt“, die Premiere ist gerade gelaufen. Dann „Die Schutzbefohlenen“, das soll nur einmal gespielt werden. Sie hätten die Saison auch ohne Premieren ausklingen lassen können. Warum haben Sie beide Produktionen noch in den Spielplan genommen? „Hauptstadt“ hat sich angeboten. „Die Hauptstadt“ haben wir zwei Wochen geprobt, dann kam der Lockdown, und wir haben aufgehört zu probieren. Dann haben wir intensiv darüber gesprochen, ob wir einen Spielmodus finden, der mit Corona einhergeht. Da war am Anfang Widerstand. Und da hat sich gezeigt, dass sich für diese Art der Erzählung, diese künstliche Überhöhung der Wirklichkeit natürlich sehr gut eignet. Uns war es wichtig, nicht nur die Isolation, nicht nur die Frage nach Grundrechten zu thematisieren, sondern gerade in dem Prozess, wie eine solche Pandemie gelöst wird, natürlich auch einen Blick auf die Europäische Union zu werfen. Haben Sie bei der Planung an eine Pandemie gedacht? Das Stück haben wir vor Corona angesetzt. Aber es hat jetzt natürlich sehr gut gepasst, dass wir Europa befragen – so wie der Autor, der in seinem Buch „Die Hauptstadt“ ein großer Europa-Enthusiast ist, auf der anderen Seite bissig in seiner Kritik über den Beamtenapparat. Er wendet sich vehement gegen den aufgeblasenen Beamtenapparat, der sich zum Teil aus Eigennutz am Leben erhält. Wie haben sie dieses Programm geplant? Es war mir wichtig, in dieser stetigen Steigerung, die wir vorgenommen haben, also, Tiefgarage, Open Air und dann zurück ins Haus zu kommen. Dieses Zurück ins Haus wollten wir auch damit feiern, dass wir zeigen, wir haben in der Zwischenzeit weitergearbeitet, wir geben jetzt schon einen Einblick, wie es im Herbst weitergeht. Wir wollen möglichst schnell wieder zuverlässiger Partner von Zuschauerinnen und Zuschauern werden. „Die Schutzbefohlenen“ steht am Donnerstag, 16. Juli, zum Abschluss der Saison auf dem Spielplan. Die Produktion soll nur einmal aufgeführt werden? Ich habe „Schutzbefohlene“ vor fünf Jahren inszeniert. Dafür habe ich eine Fassung geschrieben. Wir wollen am Ende der Spielzeit einen Akzent setzen und zeigen, dass es neben Corona tatsächlich auch noch ein Mittelmeer gibt, dass es Fluchtbewegungen, dass es Migration gibt. Dass wir auf der einen Seite Menschen haben, die vor Krieg und Elend und auf der anderen Seite auch vor ökonomischen Verhältnissen flüchten. Dass wir davor die Augen nicht verschließen können. Diese Schere von Arm und Reich geht auseinander. Und sie geht nicht nur im individuellen Bereich auseinander, sondern sie geht auch bei den unterschiedlichen Welten auseinander. Deswegen sind Fluchtbewegungen und Migration natürlich immer auch an ökonomische Verhältnisse geknüpft. Ich finde, dass gerade Corona viele Anlässe gab, darüber nachzudenken, ob wir das, was wir alles angehäuft haben um uns herum, ob wir das alles wirklich brauchen. Für mich ist Corona auch eine Chance. Nehmen wir den Betrieb, so wie wir ihn hatten, ganz genau wieder auf. Vielleicht ist jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, entscheidende Weichen zu stellen. Der Theaterbetrieb ist wieder gestartet, wenn auch eingeschränkt. Wie sitzen die Besucher bei Ihnen? Und wie fühlt sich das an? Die Besucher sitzen alle eineinhalb Meter auseinander, das ist die Vorgabe. Wir haben das so geregelt, dass Menschen, die zu zweit kommen, nebeneinander sitzen können. Sonst sitzen alle vereinzelt. Aktuell passen 100 Zuschauer in den großen Saal. Die Zuschauer entwickeln, bis jetzt zumindest, relativ wenig Kommunikation untereinander. Sie sind zu weit weg. Lachen, Atmen, diese Reaktionen, Konzentration: Das ist etwas, das nicht herstellbar ist in dieser Anordnung, zumindest bis jetzt nicht. Es fühlt sich seltsam an. Wie planen Sie den Start in die neue Spielzeit? Planen Sie so, als sei alles wieder völlig normal. Oder planen Sie im Krisenmodus? Wir haben thematisch auch auf Corona eingeschwenkt. Wir haben versucht, Themen zu finden, die stark in Bezug stehen zu einer solchen gesellschaftlichen Aufgabe, die wir zu schultern haben. Und wir haben ein paar Produktionen herausgenommen. Wir können nicht zwölf Produktionen im großen Haus anbieten: Da müssten wir 658 Tage spielen, damit wir die gleiche Zuschauerzahl schaffen. Ein volles Programm können wir nicht finanzieren. Und wir hoffen sehr, dass die Salzburger Festspiele erfolgreich sind. Denn dort kann jetzt jeder zweite Platz besetzen werden. Das würde auch uns extrem helfen. Wir könnten dann auch das DT – 2 und auch den Keller wieder bespielen. Verraten Sie uns, mit welchem Stück Sie in die Spielzeit starten? „Der Riss durch die Welt“ von Roland Schimmelpfennig. In seinem neuen Stück lässt er zwei Paare aufeinander treffen. Das eine Paar ist sehr reich, es setzt sich mit Kunst auseinander. Das das junge Paar sind zwei Künstler. In dieser Konstellation wird ein Riss durch die Gesellschaft spürbar. Dann werden wir „Hauptstadt“ wieder aufnehmen und dann mit „Gewalt und Leidenschaft“ nach dem Film von Luchino Visconti weitermachen. Das haben wir fertig geprobt. Wenn wir zurück sind, hat diese Produktion am 12. September Premiere. Sie haben einige neue Formate oder neu ins Programm genommen. Zum Beispiel in der Tiefgarage mit dem Auto vor die Bühne zu fahren. Sie haben Open-Air-Theater hinten auf der Bühne coronagemäßig aufbereitet. Sie haben sich Märchenrundgänge ausgedacht. Werden Sie diese neuen Formate weiter fortspinnen? Es zeigt sich, dass Zuschauerinnen und Zuschauer an anderen Formaten sehr interessiert sind. Ich finde es immer wieder toll, wie wir in ganz anderer Erzählweise Kompetenz einbringen können. Fakt ist, dass auch die Tiefgarage eine relativ aufwendige Geschichte ist, weil wir damit nicht Zuschauer generieren können. Wir sind aber dazu da, Publikum zu haben. Deswegen muss man sich unbedingt diese Formate leisten, aber man muss dafür eine Basis schaffen, um das umsetzen zu können. Wir werden natürlich weiter suchen, und wir werden beispielsweise auf der digitalen Bühne weiterarbeiten. Aber wir können letztlich die persönliche Begegnung nicht ersetzen. Theater ist analog und vor allem eine Begegnung. Dem haben wir uns verpflichtet. Wie ist das Deutsche Theater bislang finanziell durch diese Krise gekommen, und wie lange können Sie das überhaupt noch durchhalten? Wir haben jetzt bis zum Sommer Kurzarbeit gehabt. Nach den Sommerferien nehmen wir sie wieder auf. Die Kurzarbeit gibt uns die Möglichkeit, nicht nur Ensemble, auch Menschen in den Werkstätten, so einzusetzen, wie es notwendig ist. Wir haben nicht das ganze Haus geschlossen, sondern haben versucht, in allen Abteilungen mindestens zu 50 Prozent weiterzuarbeiten, was uns die Möglichkeit gab, einerseits ein bisschen den Rücken frei zu haben durch die Agentur für Arbeit und andererseits einen Gestaltungsspielraum, dass wir die Leute, die wir brauchen, aus der Kurzarbeit holen konnten. Darauf sind wir angewiesen. Wir haben einen Wirtschaftsplan für die ganze nächste Spielzeit gemacht, der auf diesem Modus basiert. Ich glaube, Kurzarbeit haben wir bis Februar und können dann bis zum Sommer erst mal so weitermachen – auch, weil wir in den beiden letzten Spielzeiten gut gewirtschaftet haben. Wir hatten viele Zuschauer und hatten Überschüsse, die wir jetzt sehr gut einsetzen können. Insofern würde ich sagen: Bis zum nächsten Sommer geht das. Was nachher ist, da können wir nur beten. Wird es mit Beginn der neuen Spielzeit Veränderungen im Ensemble geben? Wir haben ein paar Kolleginnen und Kollegen, die weggehen. Marius Ahrendt zum Beispiel. Er hat ein Casting für eine große Netflix-Serie gemacht und ist in einer der Hauptrollen besetzt. Er dreht ab der nächsten Woche in Budapest. Auch Florian Donath geht. Er war vier Jahre be uns. Das ist für einen jungen Schauspieler eine lange Zeit. Er geht weg, weil er eine Veränderung braucht. Ich befördere das gerade bei jungen Kollegen, weil ich finde, dass sie sich von den Gegebenheiten nicht einlullen lassen dürfen. Man kann in Göttingen sehr gut leben. Aber er bricht auf, will anders arbeiten, will andere Formen kennenlernen, also freies Theater und auch Film erobern, das unterstütze ich sehr. Gregor Schleuning schließlich will frei arbeiten. Von Peter Krüger-Lenz