Göttingen: Lautes Comeback nach Corona-Pause mit „Fenster auf!“

Inspiriert von den Balkonkonzerten in Italien hat das Literarische Zentrum in Kooperation mit dem boat people projekt die Fenster einer Schule zu einem Spektakel aus Schauspiel, Lesung und Musik im öffentlichen Raum genutzt – verbunden mit dem Ziel, die Straße als künstlerischen Ort wiederzuentdecken. Beide Einrichtungen haben zur Wiederaufnahme ihres Spielbetriebs mit „Fenster auf!“ am Freitagabend ein lautes und kraftvolles Zeichen gesetzt. Dazu hatten sie auf den Albanikirchhof geladen, wo die zahlreich erschienenen Besucher mit Texten und Live-Musik aus wechselweise beleuchteten Fenstern des gegenüberliegenden MPG-Minimax unterhalten wurden. Gelesen und gespielt wurden die Texte von den Schauspielern Franziska Aeschlimann, Nora Amin, Andreas Jeßing, Mahsa Pakzad, Roula Thoubian und Raluca Urea. Bedürfnis nach etwas Lautem nach dem Lockdown: Nach dem Lockdown und den darauf folgenden unzähligen Zoom-Konferenzen und Streams sei es das Bedürfnis nach einem Zeichen, nach etwas Lautem, das sie gesteuert hätte, erläutern Anja Johannsen vom Literarischen Zentrum und Nina de la Chevallerie vom boat people projekt. Letztendlich sei die Idee zu dem Projekt dann in einem gemeinsamen Gespräch auf dem Spielplatz entstanden. Der Titel sei Programm und auch maßgeblich für die Auswahl der Texte verantwortlich, so Johannsen. Es gehe um Solidarität und gegen Vereinzelung und deren psychosoziale Folgen. Dabei könne die Literatur ein gutes Hilfsmittel gegen Verschließung sein und Begegnungen schaffen. Zusätzlich hätten sie den Fokus auf Internationalität und Mehrsprachigkeit gelegt, ergänzt de la Chevallerie. Fenster spielen wichtige Rolle: „Wir stehen immer auf der anderen Seite des Fensters...“ heißt es in dem ersten Text. In Berit Glanz Roman „Pixeltänzer“ spielen anschließend auch Fenster eine wichtige Rolle. Eine Frau steht oft abends nackt an ihrem erleuchteten Fenster und schaut auf die vorbeifahrende Ringbahn, aus der sie in ihrer Vorstellung von einem Mann beobachtet wird. „...das Bild der Frau hinter doppeltem Glas bleibt in seinem Kopf hängen und inspiriert ihn zu etwas furchtbar Analogem...“, heißt es am Ende des Zitats. Ein persisches Gedicht wird zweisprachig, ein belarussisches in deutscher Sprache zitiert und Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ überarbeitet zu einer szenischen Lesung mit wechselnden mehrsprachigen Akteuren. Bonn Parks „Das Knurren der Milchstraße“ wird ebenso zitiert wie Abert Camus „Die Pest“ oder Thea Dorns „Bombsong“. Drei Schreibaufträge wurden an die Autorinnen Luise Rist, die Ägypterin Nora Amin und die in Rumänien sehr bekannte Theaterautorin Theo Herghelegiu vergeben. Text erinnert an Anti-Roma-Tendenzen: Herghelegius Text, in dem es um Solidarität und Pseudosolidarität geht, soll auch an die Anti-Roma-Tendenzen nach den Corona-Ausbrüchen im Iduna-Zentrum erinnern. In „Pizza Dracula“ von Luise Rist streiten ein überhebliches Touristenpaar und eine Gondoliere in Venedig zum Thema Tourismus und Ausbeutung, wunderbar sarkastisch gespielt von Aeschlimann, Jeßing und Urea. Beeindruckend zusammengehalten wird das Ganze von eindringlichen Gesangs- und Musikeinlagen. Dazu hatte Hans Kaul eine kleine Band mit dem Geiger Justin Ciuche sowie den Sängern Sajad Torabi und Balem Abbas zusammengestellt. Wenn zum Ende alle Protagonisten noch mal in den Fenstern erscheinen, gibt es zu recht langanhaltenden Applaus für diese ideenreiche Aktion. Zuschüsse von der Stadt Göttingen und Naturkost Elkershausen machten es möglich, dass allen Beteiligten auch Honorare gezahlt werden konnten. Das weitere Programm des Literarischen Zentrums im September: Montag, 7. September, 20 Uhr Maren Kames »Luna Luna« In der Reihe »nur dies gedicht... « Dots Innenhof im Börnerviertel Dienstag, 8. September 2020, 19 Uhr Alwin Meyer Ausstellung »Vergiss deinen Namen nicht – Die Kinder von Auschwitz« Literatur macht Schule (Vortrag) Altes Rathaus Montag, 21. September, 19 Uhr Katrin Gottschalk und Klaus Theweleit „Männerphantasien“ & „Warum Cortés wirklich siegte“ Altes Rathaus Nachholtermin, kein Vorverkauf! eventuelle Restkarten an der Abendkasse Mittwoch, 30. September 2020, 17 Uhr Andreas Steinhöfel Vorpremiere: »Rico, Oskar und das Mistverständnis« Literatur macht Schule (Lesung) Kino Méliès, Göttingen Weitere Informationen unter www.literarisches-zentrum-goettingen.de Die kommenden Veranstaltungen des boat people projekts: Sonntag, 20. September 2020, 18 Uhr Göttinger Abende Zeitgenössischer Musik (externe Veranstaltung) WERKRAUM (Stresemannstr. 24c) Informationen zu den nächsten Eigenproduktionen gibt es in Kürze unter www.boatpeopleprojekt.de Von Jörg Linnhoff