Göttinger Theaterprojekt „Boat People Projekt“: Neue Ideen in der Pandemiepause

Sie seien in den vergangenen Wochen oft gefragt worden, was sie eigentlich so treiben in dieser „kulturfreien“ Zeit, erzählt Regisseurin und Projektleiterin Nina de la Chevallerie vom Göttinger „Boat People Projekt“. Sie berichtete, dass das freie Theater mit „vielen kreativen Ideen und deren Umsetzung positive Zeichen für die Zukunft“ während und nach der Pandemie setzen will. Digitale Kunst: Während sie ihre Schauspielproduktionen mit herkömmlichen Mitteln finanzieren, so de la Chevallerie, können sie über Zuwendungen aus dem Konjunkturprogramm „Neustart Kultur“ der Bundesregierung Ideen zu strukturellen Veränderungen umsetzen. Eine wichtige Säule ihrer Tätigkeiten sei von Beginn an die internationale Zusammenarbeit. In Corona-Zeiten stehe der Begriff „Digitale Kunst“ im Fokus. So haben sie sich die Frage gestellt, was ihre Partner und Partnerinnen in anderen Ländern in diesen Zeiten machen, wie sie Kontakt halten und mit ihnen künstlerisch arbeiten können. Dabei habe die Digitalisierung als Weg nahe gelegen. Videos wurden untereinander ausgetauscht. Es entstanden „Logbücher im Lockdown“, die sie über Facebook veröffentlichten. In dem experimentellen Miniprojekt „Klub Kali“ haben sechs internationale Künstler und Künstlerinnen Texte geschrieben, ausgetauscht und geprobt, erklärt de la Chevallerie. Hybride Bühne: „Unsichtbare Dinge, die etwas verändern“ - so nennt Regisseur und Videokünstler Reimar de la Chevallerie strukturelle Neuerungen wie das Konzept für eine hybride Bühne. Gemeinsam mit einem Programmierer aus Köln entwickel das Team gerade ein Tool zur Gestaltung digitaler Räume. In diese können Zuschauende sich einschalten und live in einer Aufführung dabei sein. Gemeinsam mit den Performenden sollen sie sich sehen und auch hören. So könne in Echtzeit eine Sängerin in Paris von einem Klavierspieler in Deutschland begleitet werden, ergänzt de la Chevallerie. Das Handling des Tools wird sich hinter einer Webseite verstecken. Dazu gebe es dann ein Onboarding zur Einweisung. Zuschauende sollen sich über entsprechende Button vom Bühnenraum ins Foyer begeben und dort auch den zugeschalteten Akteuren vor Ort begegnen können, so dass ein interaktives, digitales und analoges Zusammenlegen erfolgt. Dabei müssten allerdings auch die Möglichkeiten des Internets mit einbezogen werden, so de la Chevallerie, um das Handling möglichst leicht zu machen. Lesen Sie auch Göttinger Boat People Projekt zeigt interaktives Theaterstück Göttinger "boat people projekt" erhält Intergrationspreis Das Tool wird im Juli im Rahmen einer Fachtagung zum Thema "Digitalisierung und internationale künstlerische Zusammenarbeit" getestet. Später soll es als Open-Source-Projekt auch anderen Theatern zur Verfügung gestellt werden. Weitere Produktionen des Boat People Projekts: „Sichtbare Kunst“ wird es mit dem Stück „Gold – Die Künstlerin ist abwesend“ von Luise Rist in der Streaming-Premiere und Live-Nachgesprächen am 19. März geben. Das Stück beschäftigt sich mit dem sogenannten salonfähigen Rassismus. Weitere Termine gibt es am 20., 21., 26., 27., und 28. März. „Overdose (The show of pain and joy)“ ist eine Kooperation mit dem Kollektiv Ma´louba und dem Kainkollektiv aus dem Ruhrgebiet, die Ende März gezeigt wird und eigentlich auch auf eine große, überregionale Gastspielreise gehen sollte. Das Projekt entstand über einen Zeitraum von zehn Monaten in einer Gruppe mit syrischen und deutschen Theaterkünstlern und Künstlerinnen. Die Streaming-Performance in arabischer, englischer und deutscher Sprache wird kostenlos zur Verfügung stehen. Ein weiteres Ziel sei die barriereärmere Gestaltung der Räume, ihres Programms, der Webseite und anderer zu erschließendender Bereiche, so Nina de la Chevallerie. Leichte Sprache oder frühe bedürfnisorientierte Buchungsmöglichkeiten seien hier zwei Beispiele. Sie könnten zwar nicht alle Leerstellen beseitigen, aber sie wenigstens benennen. Dazu bestehe auch ein Austausch mit anderen Theatern. Zusätzlich werde derzeit in Eigenarbeit ein Lagerraum umgebaut, um coronatauglichen Platz für ihr soziokulturelles Programm zu gewinnen. Die Aktivitäten des Boat People Projekts sind nicht unbemerkt geblieben. Das Theater ist für den Deutschen Preis für Kulturelle Bildung „Kulturlichter“ 2020 in der Kategorie „Preis des Publikums“ nominiert, über den ab dem 4. März ein öffentliches Online-Voting entscheidet (kulturlichter-preis.de). Von Jörg Linnhoff