Premiere von Heiner Müllers Philoktet am Deutschen Theater in Göttingen

Ehemals Heimat des Goethe-Instituts, war das Fridtjof-Nansen-Haus am Sonnabend Schauplatz der Premiere von Philoktet. Regie führte Elias Perrig in der Sommer-Aufführung des Deutschen Theaters. In dem von Heiner Müller zur Zeit des Mauerbaus geschriebenen Antikendrama treffen drei Individuen in Person von Odysseus, dem jungen Neoptolemus, Sohn des Achilles, und eben Philoktet aufeinander. Letzterer wurde einst, verwundet durch einen Schlangenbiss, von Odysseus auf dessen Zug gen Troja auf der Insel Lemnos ausgesetzt. Seitdem fristet er, nur mit Pfeil und Bogen bewaffnet, ein verwahrlostes, trauriges Dasein. Trostlosigkeit der Insel: Auf der improvisierten, von Beate Faßnacht gestalteten Bühne im Foyer des Fridtjof-Nansen-Hauses liegen Tierknochen und Aschereste verstreut auf dem Boden. Sie symbolisieren die Trostlosigkeit der unbewohnten, nur von Geiern bevölkerten Insel Lemnos, auf die Philoktet einst von Odysseus wegen seiner Verwundung verbannt wurde. Zehn Jahre später kehrt Letzterer, gespielt von Carsten Hentrich, in Begleitung des jungen Neoptolemos (Moritz Schulze) auf die Insel zurück, weil er nur durch die Bogenkunst des Zurückgelassenen noch eine Chance sieht, die Niederlage im Trojanischen Krieg abzuwenden. Doch Philoktet (Andreas Jeßing), vom Hass auf alle Griechen zerfressen, ist nicht bereit, sich in die berechnend rationalistischen Kriegspläne einbinden zu lassen. Hentrich gibt dem Odysseus im Anzug und Soldatenstiefeln die distanzierte Überheblichkeit eines Taktierers, dem jedes Mittel recht ist, sein Ziel zu erreichen. Schulze spielt den Neoptolemos zwischen Unsicherheit und Entschlossenheit. Er will „Helfer, kein Lügner“ sein, denn „vielleicht hilft die Wahrheit mehr“. Intensives Kammerspiel: Schaurig tierische Laute sind zuerst zu hören, wenn Philoktet über das Treppenhaus von oben kommend die Bühne betritt. Jeßing spielt ihn in seiner lumpigen Gestalt auf teils dämonisch zynische Art mit einer so hohen Intensität, Körpersprache und Wucht, dass den um die Bühne herum platzierten Besuchern in einigen Szenen fast der Atem stockt. Die Schauspieler nutzen bei ihrem intensiven Kammerspiel in der Dramaturgie von Verena von Waldow auch vom Foyer abgehenden Nebenräume, aus denen sie zwischenzeitlich nur noch akustisch wahrzunehmen sind. Das Werk Heiner Müllers wird mit den Lehrstücken von Bertolt Brecht verglichen, in denen dieser eine völlig neue Art von Theater entwarf. In seinem hochemotionalen, versbasierten Drama thematisiert Müller die Frage nach der Verantwortung für die Gesellschaft und den damit einhergehenden Opfern sowie der Moral bei brisanten Entscheidungen. In aller Deutlichkeit werden drei unterschiedliche, politische Einstellungen in Person des Strategen, Rationalisten und Funktionärs Odysseus, des jungen Idealisten und Moralisten Neoptolemos und des gebrochen verbitterten, von Misstrauen und Rachegelüsten befallenen Individualisten Philoktet aufeinander losgelassen, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Es kommt zu einem sprachgewaltigen, taktischen Kampf, der letztendlich in die Katastrophe führt und nur Besiegte hinterlässt. Lang anhaltender Beifall: Der zuerst arglose Moralist Neoptolemus wird, von Odysseus für dessen schändliche Pläne missbraucht, zum Mörder und verliert so seine Unschuld, während der Stratege Odysseus selbst den Leichnam Philoktets noch für seine aggressiven Kriegszwecke zu nutzen bereit ist. Die rund 50 Besucher in der voll besetzten Premiere bedachten das anderthalbstündige intensive Spiel der drei Protagonisten zu Recht mit lang anhaltendem Beifall. Lesen Sie mehr: Das bringt die neue Spielzeit 2019/2020 am Deutschen Theater Das Deutsche Theater Göttingen wird mit „Philoktet“ im Rahmen der Reihe DT Mobil noch bis zum 22. September zu Gast im Fridtjof-Nansen-Haus, Merkelstraße 4, sein. Vorstellungen gibt es beinahe täglich. Sie beginnen um 20 Uhr. Karten gibt es unter der Telefonnummer 05 51/ 49 69-300 oder direkt an der Theaterkasse, Theaterplatz 11. Sie erreichen den Autor unter: E-Mail: magazin@goettinger-tageblatt.de Von Jörg Linnhoff

„DT Mobil“ - Premiere von „Philoktet“ am Deutschen Theater