Wie die Händel-Festspiele nach Göttingen kamen

Die Händel-Opernrenaissance feiert 2020 ihren 100. Geburtstag. Ausgangspunkt war Göttingen – eine Stadt, in der Händel nie gelebt, die er nie besucht hat. Dass es ausgerechnet hier am 23. Juni 1920 zur ersten Wiederaufführung einer Händel-Oper kam, ist einem Zufall zu verdanken. Denn wäre der frisch habilitierte Kunsthistoriker Oskar Hagen 1918 etwa an eine andere Universität gelangt als an die Georgia Augusta, hätte es in Göttingen wohl niemals Händel-Festspiele gegeben. Und wer weiß, ob Hagen tatsächlich diese Idee verfolgt hätte, wenn er nicht ausgerechnet mit einer sehr sangesfreudigen Frau verheiratet gewesen wäre: mit Thyra Leisner, Schwester der damals deutschlandweit gefragten professionellen Sängerin Emmi Leisner (Alt). Thyra Hagen-Leisner war keine Berufsmusikerin, sie sang Sopran aus Liebhaberei – und 1920 in Göttingen die Titelrolle in „Rodelinde“. In Halle von Händels Opern erfahren: Vor seiner kunsthistorischen Habilitation hatte Oskar Hagen in Halle studiert und dort auch musikwissenschaftliche Vorlesungen gehört: bei Hermann Abert. Dort erfuhr er Näheres von der Existenz wunderbarer Opernarien Händels, die aber seit dem Tod des Komponisten nie wieder auf der Bühne aufgeführt worden waren. Zwar lagen die Partituren aller Opern in der monumentalen Gesamtausgabe Friedrich Chrysanders Ende des 19. Jahrhunderts vor. Doch, so Hagen in seinem Aufsatz „Die Bearbeitung der Händelschen Rodelinde und ihre Uraufführung am 26. Juni 1920 in Göttingen“, werde „von einer ausgestellten Opernpartitur […] keine Händel-Oper wieder lebendig.“ Und das sei dringend nötig, denn was Händel „vom dreiundzwanzigsten bis fünfundfünfzigsten Lebensjahre vorzüglich geschaffen, das also, wodurch er zunächst den internationalen Ruhm der deutschen Tonkunst für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts begründet hat, die schöpferischen Hervorbringungen seiner besten Manneszeit – das halbe Hundert Opern meine ich –, man kennt es nicht, rechnet nur mit der literarischen Kunde davon als mit einer bloßen Kuriosität und ist deshalb ohne Anschauung von der einheitlichen Persönlichkeit des Musikers Händel und seiner besten Kräfte.“ War die Tat Hagens aber wirklich die Wiedererweckung der Händel-Oper? Ja, durchaus. Aber keineswegs hat sich Hagen darum bemüht, die Händel-Oper in ihrer Originalgestalt zu zeigen. Im Gegenteil: Er hat sehr eigenwillig in Händels Opernpartitur eingegriffen. Das zu erkennen heißt nicht, die Bewunderung für den Mut zu schmälern, mit dem Hagen eine derartige „Kuriosität“, wie er es selbst nannte, auf die Bühne gebracht hat. Er hat seine Eingriffe in bester Absicht vorgenommen. Das begründet er so: „Der Mensch von heute muss durch die Wahrheit der Handlung gebannt und bis zum letzten Aktschlusse festgehalten werden. […] Aus diesem obersten Grunde wäre eine exakte Rekonstruktion der Darbietungen, wie sie zu Händels Lebzeiten in der Londoner Royal Academy stattfanden, einfach sinnlos.“ Texte ins Deutsche übertragen: Weil Oskar Hagen den „Menschen von heute“ mit seinen Vorstellungen über das, was er von einer Opernbühne erwartet, offenbar genau zu kennen meinte, zog er daraus seine Schlüsse. Er schreibt: „Wäre die ganze Aufführung von bloß historischem Interesse getragen gewesen, so hätten die Sänger originalgetreu, d. h. italienisch singen können. Wo es auf das fortgesetzte Verständnis der Worte vonseiten der Zuhörer ankam, wurde die Frage der Verdeutschung zu einer der wichtigsten für den Bearbeiter.“ Hagen hat also den Text ins Deutsche übertragen, auch die Namen aller handelnden Personen (deshalb heißt die Oper bei ihm „Rodelinde“), und dabei nach eigenem Bekunden versucht, „soweit die gesangliche Phrasierung es gestattet, ein möglichst intaktes Bild der originalen Reimordnung zu geben“. Bisweilen ist er noch weiter gegangen in der Absicht, „unter Wahrung des Gesamtsinnes jeder Arie dem italienischen Text einen deutschen entgegenzustellen, in dem möglichst kein Vokal aus seiner ursprünglichen Stelle verdrängt wird“. Ihm schien auch die Dramaturgie der Händelschen Oper nicht wirksam genug. „Das damals erwünschte, verwickelte Intrigenspiel hat die Handlung dennoch über Gebühr verwirrt; und die Gewohnheit, jede Szene, gleichgültig ob dramaturgisch bedeutsam oder belanglos, in einer Arie ausklingen zu lassen, hält den erforderlichen Anstieg der Aktion so empfindlich auf, dass es unerlässlich war, […] das Gerank der sich überkreuzenden Intrigen energisch zu beschneiden.“ Auch die Da-capo-Form der Arien, deren Anfangsteil am Ende variiert wiederholt wird, war ihm stellenweise dramaturgisch suspekt. „In jedem Falle muss aber vorweg gefragt werden, ob die Reprise in vollem Umfang überhaupt erforderlich ist oder nicht. In wenigen Fällen empfiehlt es sich, nur den Hauptteil der Arien vorzuführen.“ 30 Arien, Duette und Chöre: Händels Partitur war für Hagen also eine Art Steinbruch, aus dem er sich das Schönste, Wirkungsvollste herausbrach, um es zu angemessener Wirkung zu bringen. In Händels „Rodelinda“ gibt es 30 Arien, Duette und Chöre. Hagens mutige Auswahl: „Ich habe im ersten Akt 7, im zweiten und dritten je 5 stehen lassen. […] Mit der Aussonderung der unwesentlichen Arien ergab sich aber schon ganz automatisch die scharfe Sonderung wesentlicher und belangloser Personen oder Szenen, und die bloße Dramaturgie vom Standpunkt des Musikers gab der des Libretto-Bearbeiters aufs Überzeugendste Recht in allen wichtigen Punkten“, schreibt er selbstbewusst. Von den sechs handelnden, mehr oder minder gleichwertigen Personen in Händels Oper stünden in seiner Bearbeitung „scharf gegeneinander abgehoben drei Hauptpersonen, eine Nebenperson und zwei ganz untergeordnete Rollen“. Dass Hagen die Kastratenpartien der Händel-Opern von Männern in tiefer Lage hat singen lassen, ist angesichts seines hemdsärmeligen Umgangs mit dem Original selbstverständlich: „Bei einer Neubelebung der Händel-Oper für das Publikum von heute war es unerlässlich, die Männerrollen von Männern spielen zu lassen.“ Heute werden die Händelschen Kastratenpartien von Countertenören gesungen. Doch dieses Stimmfach war – zumindest in Mitteleuropa – im 19. und frühen 20. Jahrhundert im weltlichen Sologesang aus der Mode gekommen. Diese Möglichkeit also stand Hagen 1920 nicht zur Verfügung. Mit der Verpflichtung von Paul Thiersch als Bühnenbildner für seine „Rodelinde“ 1920 ist Hagen dem erwähnten „Menschen von heute“ am stärksten entgegengekommen. Er formuliert: „Theatergeschichtlich betrachtet, war es der erste Versuch, den Expressionismus tale quale [so wie er ist] auf die Bühne zu bringen.“ In seinem Aufsatz rechtfertigt das Hagen mit der „naturalistische[n] Ausdrucksweise der Händelschen Musik, die, indem sie ein Wort durch eine lange Koloratur ,ausmalt‘, – ganz expressionistisch – die Sache selbst als ein bloßes Symbol behandelt und den hinter dem Wortsymbol verborgenen Gefühlswert allein zur Wirkung zu bringen sucht.“ Das gilt in ähnlicher Argumentation auch für die Bühnenbilder Thierschs. „Soll das Verständnis für das dem modernen Empfinden im Grunde so verwandte Wesen der Händelschen Musikdramatik geweckt werden, so biete man dem Auge etwas ähnlich Kühnes! Fast steht dabei zu hoffen, dass, wer den Sinn des Expressionismus in der bildenden Kunst noch nicht recht erfasst hat, ihn auf diesem Wege von der Musik aus intuitiv gewinnen könnte.“ Mehr zum Jubiläum der internationalen Händel-Festspiele Göttingen lesen Sie auf unserer Themenseite. Oskar Hagen, geboren 1888 in Wiesbaden, studierte zunächst Musikwissenschaft, dann Kunstgeschichte, wurde 1914 in Halle promoviert und 1918 in Göttingen mit einer Schrift über Piera della Francesca habilitiert. Anschließend war er in Göttingen Privatdozent, wo er 1920 mit der Aufführung der „Rodelinde“ den Anstoß zur Händel-Opernrenaissance gab. An seinem Wohnhaus (Am Goldgraben 20) wurde 1981 eine Gedenktafel angebracht. Bis 1925 führte Hagen in Göttingen noch drei weitere Opern Händels auf: „Otto und Theophano“, „Julius Cäsar“ und „Xerxes“. 1924 erhielt er eine Gastprofessur in Madison/Wisconsin (USA), aus der eine lebenslange Anstellung erwuchs. Verheiratet war er mit Thyra Leisner, einer begeisterten Musikliebhaberin im Stimmfach Sopran, die in seinen Göttinger Händel-Opern Hauptrollen sang. Ihre Kinder Holger Hagen und Uta Thyra Hagen wurden Schauspieler. Oskar Hagen starb 1957 in Madison. Von Michael Schäfer

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