Zeit-Politikchef warnt in Göttingen vor „Extremismus der Normalität“ Diskussion zum Klimawandel

Über die korrekte Reaktion auf den Klimawandel haben Bernd Ulrich (Die Zeit) und Sina Kaufmann (Extinction Rebellion) am Donnerstagabend in Göttingen diskutiert. Gastgeber war das Literarische Zentrum. Ohne einschneidende Veränderungen im Leben eines jeden einzelnen lassen sich der Klimawandel und das Artensterben nicht aufhalten. In diesem Punkt waren sich Ulrich, der stellvertretende Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“, und Kaufmann, Vertreterin der Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion, im Alten Rathaus einig. Dorthin hatte das Literarische Zentrum die Veranstaltung, die vom Göttinger Literaturwissenschaftler Professor Heinrich Detering moderiert wurde, aufgrund des großen Interesses verlegt. Von einem „Extremismus der Normalität“ sprach Ulrich, der bei der Zeit auch das Ressort Politik leitet. Die Gesellschaft blende immer noch weitgehend aus, dass der heute als „normal“ geltende Lebensstil die gegenwärtigen Umweltprobleme immer weiter verschärfe. Eine Fortführung werde die Lebensumstände der Menschen in den kommenden Jahren „deutlich verschlechtern“. CDU und SPD seien zu „ängstlich“, um die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Deshalb müsse die Große Koalition „weg“. Die FDP setze „religiöse Hoffnungen“ in den technologischen Fortschritt. Eine Regierungsbeteiligung der Grünen stehe an. Kritik am Klimapaket-Kompromiss: Am Beispiel des Klimapaket-Kompromisses erläuterte Ulrich seine Position. Unter „normalen“ Verhältnissen wäre es ein „großer Erfolg“ gewesen, dass Kohlendioxid nun nicht – wie ursprünglich geplant – mit zehn Euro, sondern mit 25 Euro die Tonne besteuert werde. Unter den aktuellen Bedingungen sei das aber nicht der Fall. Der Preis pro Tonne müsse bei mindestens 50 Euro liegen, wolle die Politik die Umweltprobleme „ernsthaft lösen“. Kaufmann setzt auf zivilen Ungehorsam: Aktionen des zivilen Ungehorsams, um die Bevölkerung wachzurütteln, forderte daher Kaufmann von Extinction Rebellion. Die Bewegung blockiere zum Beispiel Straßen, um mit verärgerten Autofahrern ins Gespräch zu kommen. Die Umweltaktivistin sprach sich für die Einberufung von Bürgerversammlungen aus. Deren Teilnehmer sollten durch das Los bestimmt werden. Dort gelte es, über die aktuellen Probleme und mögliche Lösungsansätze zu diskutieren. Das könne für „Bewegung“ in den Parlamenten sorgen. Ulrich warnt vor einer „Ökodiktatur“: Beunruhigt über Stimmen bei Extinction Rebellion, wonach die Demokratie aufgrund ihres „Versagens“ in Umweltfragen ihre Legitimität einbüße, zeigte sich Ulrich. Er sprach sich gegen eine „Ökodiktatur“ aus. Davon sei doch gar nicht die Rede, erklärte Moderator Detering. Es gelte, so Ulrich, Bürger im sachlichen Gespräch zu überzeugen. Es müssten politische Mehrheiten gesucht werden, um die Gesetze zu verändern. Das sei in Deutschlands „verschachtelten politischen System“ ohnehin schwierig. Bürgerversammlungen machten das nur noch komplizierter. Kritik an der Großen Koalition: Der Zeit-Redakteur warnte zudem davor, dass dann von anderen Teilen der Gesellschaft auch Bürgerversammlungen zur Außenpolitik und zur Migration gefordert werden könnten. Die repräsentative Demokratie bilde einen Puffer gegen Populismus. Kaufmann zeigte sich verwundert, dass Ulrich einerseits der Großen Koalition „Ängstlichkeit“ vorwerfe, sich dann aber selbst offenbar vor dem Volk fürchte. Der Zeit-Politikchef störte sich an dem „Ton der Dringlichkeit“, den Extinction Rebellion anschlage. Zwar sehe auch er die Notwendigkeit zu raschem Handeln, doch müsse die Gesellschaft die notwendigen Veränderungen mittragen. Die Aufgabe der Medien sieht er darin, „Verdrängungen“ etwa hinsichtlich der Zustände in den Schlachthöfen zu thematisieren. Von Michael Caspar

Diskussion zum Klimawandel - Zeit-Politikchef warnt in Göttingen vor „Extremismus der Normalität“