Theater im OP in Göttingen Die Traumnovelle ist aktueller denn je

Es ist ein Theaterstück, das einerseits komplett aus der Zeit gefallen wirkt und andererseits in Zeiten von „me too“ mehr denn je brandaktuell ist. In der Adaption von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ im Theater im OP geht es um Liebe, Lust, Gier und – unerfülltes – sexuelles Verlangen des jungen Ehepaars Fridolin (Fabio Rocchio) und Albertine (Yasemin Dittmann). Dabei gerät der zunächst etwas zurückhaltend, später fordernde und am Ende kleinlaute Fridolin in einer Nacht zwischen die Fronten seines eigenen Verlangens und der Liebe zu seiner Frau und Tochter. Der Warnhinheis am Eingang des Theaters, dass das Stück sexualisierte Gewalt enthält, ist in Zeiten der Political Correctness wohl nötig, doch die 130 Minuten lange Aufführung von Regisseurin Marni Morgenstern überzeugt nicht etwa durch dumpfe Provokation und nackte Haut (die es auch gibt), sondern lebt vielmehr vom Spielwitz seiner Darsteller und dem zwar minimalistischen, aber cleveren Bühnenbild. Dieses besteht im Endeffekt nur aus einem schwarzen Bett, das in mehreren Szenen genutzt wird: So etwa als Bühne in der Disco, in der Arzt Fridolin seinen ehemaligen Kommilitonen Nachtigall (mit glitzernden Gesichtstattoos: Jan-Erik Heilmann) wiedertrifft, bevor das Unheil seinen Lauf nimmt. Ohne Pause: Bühnenumbau in Kostümierung: Da es keine Pause gibt, wird die Bühne in Kostümierung umgebaut, es wird quasi in die nächste Szene hineingespielt – das ist erfrischend anders und passt hervorragend zur eigentlich gemächlichen Pace der Aufführung, die sich hin und wieder in abrupten Ausbrüchen entlädt. Zunächst scheint für das Ehepaar alles normal zu sein, bis sich die beiden von ihren Fantasien erzählen – und den Möglichkeiten zu außerehelichem Verkehr, die sie bisher ungenutzt ließen. Während sich beide ihre Liebe versichern, „ich würde dich nie betrügen“, sagt Albertine, „in jeder Frau, mit der ich vor dir zusammen war, habe ich dich gesucht“, sagt Fridolin, brodelt es unter der Oberfläche doch gewaltig. Die „Traumnovelle“ von Arthur Schnitzler wurde erstmals in der Berliner Modezeitschrift „Die Dame“ in mehreren Teilen im Jahr 1925 veröffentlicht. Erstmals verfilmt wurde das Stück über Liebe, Lust und Triebe im Jahr 1969 vom österreichischen Regisseur Wolfgang Glück, 30 Jahre später adaptierte Stanley Kubrick den Stoff für Hollywood. Die Hauptrollen spielten Tom Cruise und dessen damalige Ehefrau Nicole Kidman, die Handlung wurde ins New York der Gegenwart verlegt. Die Kritiker reagierten gespalten, gelobt wurde die schauspielerische Leistung Kidmans, während etwa New-York-Magazine-Filmkritiker David Edelstein den Film harsch als einen „einschläfernden Haufen Müll“ bezeichnete. Doch damit endeten die Adaptionen nicht: Im Jahr 2007 inszenierte Theaterregisseur Ludwig Wüst die „Traumnovelle“ als freizügiges Kammerspiel in der Kaiser-Suite des Wiener Stundenhotels „Orient“. 2012 wurde das Stück gar als Graphic Novel im Stil der Siebdrucke und Farbholzschnitte der 1960er Jahre veröffentlicht. Exzellente Darsteller mit Spielwitz: In den Anfangsminuten der Geschichte zeigen die beiden Hauptdarsteller, vor allem aber die in ein schwarzes Negligé gewandte Dittmann, ihre gesamte Schauspielkunst. Zunächst verhalten, dann immer bestimmter, bis kurz vor die Eskalation lassen sich die Emotionen der Figuren an den Gesichtern ablesen. Der Schmerz, den Fridolin-Darsteller Rocchio in seinem Blick abbildet, macht die Szenerie noch intensiver. Nachdem der junge Mann zunächst schüchtern mit einer Prostituierten (Denise Frerichs) plaudert, und dort – ebenso wie zuvor bei der verheirateten Marianne (Anne-Sophie Heerdt), die ihm ihre Liebe gesteht – nichts passiert, zieht er aus, um das Abenteuer zu suchen. Nachtigall erzählt ihm von einer Party, die in einer gewaltigen Orgie endet. Er brauche nur einen Umhang und eine Maske und werde abgeholt, sagt Nachtigall. Höhepunkt: Der Kostümverleiher Gibiser: Und bei der nun anstehenden Szene mit Kostümverleiher Gibiser (genial schmierig: Oliver Eberhardt) macht das Stück endgültig den Schritt vom Laien- und Profitheater. Adiletten, weiße Tennissocken, Jogginghose, goldfarbener Bademantel, Unterhemd und Goldkettchen: Gibiser ist eher Zuhälter als Kostümverleiher, erscheint vollkommen wahnsinnig und beschimpft seine Tocher (Pelin Özsu) als „verrücktes Luder“. Doch es ist sein gesamter Auftritt, der den Zuschauern die Lachtränen in die Augen treibt, und wenn er am Ende die Mannequins auf der Bühne tanzend und singend abräumt, um sie für die nächste Szene freizumachen, ist das ganz große Kunst. Von Tobias Christ

Theater im OP - Großartige Umsetzung: Die „Traumnovelle“ ist aktueller denn je