Althusmann und Epidemiologe Krause warnen vor zu schematischem Shutdown

Herr Professor Krause, Frage an den Epidemiologen: Die Inzidenzwerte schießen hoch, die dritte Corona-Welle ist angerollt – müsste Niedersachsen jetzt nicht die Schotten ganz dicht machen und den Lockdown nochmals verschärfen? Krause: Diese Fallzahlen, auf die sich die allgemeine Diskussion oft verkürzt, zeigen nur einen Teil der epidemiologischen Lage. Diese Fallzahlen sind im Wesentlichen Laborergebnisse und repräsentieren nicht notwendigerweise erkrankte oder schwer erkrankte Menschen. Als früher Indikator für die Entwicklung sind sie wichtig, aber sie bilden eben nicht die gesundheitlichen Lasten der Gesellschaft ab. Dafür gibt es andere Indikatoren, die man bei der Bewertung mitberücksichtigen sollte. Etwa: Wie viele Menschen erkranken schwer. Welche Menschen erkranken, welche Altersgruppen? Wie ist es um die Belegung der Krankenhäuser bestellt, vor allem der Intensivstationen? Wie sieht es aus mit den Todeszahlen? Das sollte gemeinsam betrachtet werden, um auf dieser Basis ein besseres Bild zu bekommen – und letztlich mehr Handlungsalternativen. Hinzu kommen natürlich noch der Impfstatus und die gemessene Zahl von positiven Tests, die in Relation zur Anzahl aller Tests gesetzt werden müssen. „Inzidenzwert ist das entscheidende Warnsignal“: Allein der Inzidenzwert reicht also nicht, Herr Althusmann. Entspricht das, was Professor Krause eben ausführte, dem gewichteten Risikowert, den sie für die Frage, ob man lockert oder schließt, zu Grunde legen wollen? Althusmann: Der gewichtete Risikowert kann den Inzidenzwert sicherer, aussagekräftiger machen und weiterentwickeln, so dass wir zu einer noch genaueren Bewertung der Situation vor Ort gelangen. Wir dürfen aber auf den Inzidenzwert als Frühwarnindikator einfach nicht verzichten. Gerade auch in Hinblick auf schnelle Reaktionen auf eine rasante Ausbreitung des Virus und der Virus-Mutationen. Der Inzidenzwert ist das entscheidende Warnsignal an uns Politiker und die Bürger und Bürgerinnen im Lande. Aber nach zwölf Monaten Corona-Epidemie müssen wir darüber nachdenken, wie wir diesen Wert noch aussagekräftiger machen, um langsam wieder zurück in eine neue Normalität kommen zu können. Dabei ist das Infektionsgeschehen das eine, und ein sehr differenzierter Blick auf das tatsächliche Krankheitsgeschehen, die Impfquote und die Gesamtsituation ist das andere. Lesen Sie auch Stephan Weil kritisiert Mallorca-Öffnung, will Sputnik-Impfstoff prüfen Corona: Niedersachsens Touristiker entsetzt über Mallorca-Regelung Hinzu kommen ja noch Tests, die immer breiter eingesetzt werden können... Althusmann: Ja, gerade jetzt, wo die Zahlen steigen, ist es wichtig, mit einer gezielten Teststrategie das Dunkelfeld der Corona-Epidemie aufzuhellen. Ich denke, die Zahlen steigen zum einen durch das mutierte Virus, aber ebenso durch vermehrte Testungen. Wir werden so diejenigen, die das Virus womöglich ohne Symptome in sich tragen, schneller ausfindig machen. Und auch genauer herausfinden, wo Lockerungen möglich sind und wo nicht. Wenn wir die Einrichtung von Modellregionen vorschlagen, in denen etwa Einkaufen wieder möglich sein soll, ist dies kein leichtsinniger Kurs, sondern ein sicherer und vielversprechender Öffnungsansatz, der einem genaueren Lagebild folgt. Unser Konzept legt sogenannte sichere Zonen fest, und könnte so die Brücke aus der Corona-Krise heraus sein. „Es gibt bessere Möglichkeiten als den Shutdown“: Herr Professor Krause, Sie haben bereits Anfang des Jahres vor einem deutlichen Anstieg der Corona-Infektionen gewarnt und gesagt, es lägen schwere Monate vor uns. Sollte man sich jetzt mit einem „gewichteten Risikowert“ auf mehr Lockerungen zubewegen oder kurz noch einmal alles dichtmachen? Krause: Ich glaube, das sind keine sich ausschließende Alternativen. Tatsächlich sehen wir, dass die Zahl der Erkrankten steigt. Hamburg geht da gerade voran. Es steht zu befürchten, dass sich die Situation noch verschärfen wird. Das sehen viele meiner Kollegen so. Gleichzeitig stellt sich aber trotzdem die Frage, was das für Konsequenzen hat. Müssen wir die Maßnahmen also zwangsläufig verschärfen, etwa mit einem vollständigen Shutdown, oder gibt es noch differenziertere Antworten? Nehmen wir als Beispiel die Schulen: Ganz allmählich hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Infektionen im Schulkontext nicht überdurchschnittlich zur Krankheitslast beitragen, aber Schulen sind auch keine pandemiefreien Räume. Aber der Großteil derjenigen, die in der Schule sind, erkranken nicht schwer, sind also keine Hochrisikogruppen. Bei einer Abwägung, wo man eingreift, muss dies berücksichtigt werden. Umgekehrt haben wir die Situationen in den Kliniken, wo wir eine hohe Zahl von Krankenhausinfektionen haben, die es eigentlich nicht geben sollte. Ebenso in den Pflegeheimen. Das findet sich schon in der Risikoabwägung der Ständigen Impfkommission. Diese bietet nicht nur für die Impfung sondern auch für die Priorisierung anderer Maßnahmen eine recht gute Orientierung. Das heißt also, die schlichte Zeit des Entweder-Oder in ist vorbei? Krause: Es hätte sie eigentlich gar nicht geben sollen. Wir haben viel mehr Daten zur Verfügung, die wir nutzen können. Schon durch die täglichen Daten des Robert-Koch-Institutes, die nicht nur Inzidenzzahlen bieten. Gérard Krause (Jahrgang 1965) ist Arzt und Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Braunschweig. Der Mediziner arbeitete von 2000 bis 2013 am Robert-Koch-Institut in Berlin. Er habilitierte 2005 und wurde 2011 Lehrstuhlinhaber an der Medizinischen Hochschule Hannover. Bernd Althusmann (Jahrgang 1966) ist seit fünf Jahren CDU-Landesvorsitzender und seit den Landtagswahlen im Herbst 2017 niedersächsischer Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident. Althusmann war von 2010 bis 2013 Kultusminister in Niedersachsen, davor Staatssekretär. Althusmann: Diese RKI-Zahlen können auch wir nutzen, wenn wir klären, ob es verantwortbar ist, bestimme Geschäfte oder sichere Zonen zu öffnen. Dafür müssen wir genauer hinschauen, auch in Regionen, in denen wir einen höheren Inzidenzwert als Warnfaktor haben: Handelt es sich um ein diffuses, um sich greifendes Infektionsgeschehen oder gibt es eingrenzbare Hotspots? Das sollte Maßstab unserer Politik als Landesregierung sein, um so in den nächsten Monaten vorsichtige Öffnungen zu erlauben oder gegebenenfalls die Notbremse zu ziehen. Wir müssen dafür nur die differenzierte Betrachtung in eine Gesamtformel gießen, die uns erlaubt, Möglichkeiten für Modellregionen zu schaffen, in denen wieder mehr an Freiheit verantwortbar und möglich wird. Testbasiert lassen sich so Möglichkeiten für Modellregionen wie Hannover, Osnabrück, Celle, Wolfsburg, Braunschweig und andere (bislang gehen wir von insgesamt vierzehn aus) schaffen. Präziser vorzugehen ist womöglich auch mit dem Blick auf die soziale und wirtschaftliche Situation aussichtsreicher als von einem Lockdown in den nächsten zu steuern. Erst zum Test und dann zum Shoppen: Herr Krause, wie würde so eine mathematische Zauberformel aussehen, die uns sagt: Hier kann man öffnen, dort nicht? Krause: Man muss mehrere Indikatoren betrachten wie die Belegung der Krankenhäuser, die Sterblichkeit, die Erkrankungszahl, einen Quotienten zwischen positiven und negativen Testergebnissen bilden etc. Dann müsste man alle diese Werte in der Dynamik betrachten. Oft wird übersehen, die viel zitierten 35er, 50er und 100er-Inzidenzwerte sind statische Werte, die die Dynamik einer Epidemie nicht abbilden. Dann müsste man die Entwicklung der Nachbarlandkreise in den Blick nehmen. Diese verschiedenen Indikatoren könnte man in einem gewichteten Punktwert belegen – und schließlich in einem fünf- oder sechsstufigen Plan zusammenfassen. Ein Ampelsystem würde ich nicht empfehlen, denn die Dreistufigkeit in rote, gelbe, grüne Zonen ist zu grob und führt zu falschen Assoziationen. Zusätzlich sollte ein gewisser Interpretationsspielraum für die örtlich Verantwortlichen bleiben. Technisch wäre das möglich. Und wie macht man das technisch? Althusmann: Wir denken da an ein App-basiertes Sechsstufenmodell, das sich auf Smartphones stützt, wie sie eine große Anzahl der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland besitzen. Es sollte so möglich sein, Risikogebiete zu erfassen, die auf dem Smartphone abbildbar sind. Wir werden uns voraussichtlich im Verbund der norddeutschen Länder der „Luca“-App zuwenden, die eine Kontaktnachverfolgung ermöglicht, indem sie verschlüsselt Besuche im Einzelhandel oder in Gaststätten übermittelt. Es gibt aber auch noch andere, mögliche Systeme. Ist das Zukunftsmusik oder kann man das schnell umsetzen? Althusmann: Wir können das hoffentlich jetzt schnell umsetzen. Es gibt Unternehmen, die Apps entwickelt haben, die fünfzehn Minuten nach einem beispielsweise in der Apotheke durchgeführten Test datensicher das Ergebnis übermitteln. Bei einem Negativ-Test ist die getestete Person für zwölf Stunden sicher und könnte Läden und Restaurants besuchen. Ich denke, dass es nach zwölf Monaten in der Pandemie auch höchste Zeit ist, möglichst präzise Wege zu finden, wie wir wieder ein Stück Normalität ermöglichen können. Ich weiß, dass auch viele besorgte Menschen überhaupt nichts von Modellen für Lockerungen halten. Aber es geht um präzisere und gleichzeitig vorsichtige Schritte. Wir dürfen nicht von einem Lockdown in den nächsten fahren. Es muss kluge Zwischenlösungen geben, mit denen wir eine Entwicklung wie im vergangenen Jahr verhindern, als wir es nach einem entspannten Sommer schnell wieder mit steigenden Infektionszahlen zu tun hatten. Mallorca ist keine gute Idee: Krause: Man braucht ohne Frage noch differenzierte Werte. Wir haben es nicht geschafft trotz des einen Jahres, in dem wir schon in der Pandemie leben, genauere Werte etwa über bestimmte Berufsgruppen zu erfahren, um Risiken genauer zu ermitteln, etwa über Verkäuferinnen und Verkäufer. Oder auch über Lehrerinnen und Lehrer. Es wäre möglich gewesen, hier Daten für eine differenzierte Risikoanalyse verfügbar zu machen. Leider sind entsprechende Vorschläge dazu nicht aufgegriffen worden. Apropos Risiko: Mallorca ist als Urlaubsinsel jetzt für den Osterurlaub von der deutschen Regierung freigegeben worden, während Reisen auf die ostfrieschen Inseln für uns nicht möglich sind. Was halten Sie als Wirtschaftsminister davon, Herr Althusmann? Althusmann: Es ist schon ein bisschen absurd, dass wir nach Mallorca fliegen dürften, gleichzeitig aber kein Kurzurlaub auf den ostfriesischen Inseln, im Harz oder in der Heide erlaubt ist. Das müssen wir in jedem Fall überprüfen und in der Ministerpräsidentenkonferenz erörtern. Ich plädiere sehr dafür, dass man hier eine Lösung für den Tourismus in Niedersachsen finden und ein Signal setzen könnte. Ich höre, Sachsen-Anhalt öffnet die Hotellerie. Doch sollten da noch keine testbasierten Konzepte existieren, hielte ich diesen Schritt für schwierig. Womöglich könnte für Ferienwohnungen oder Ferienhäuser im eigenen Bundesland eine Lösung gefunden werden, die noch vor Ostern greift. Intern sind wir uns in der niedersächsischen Koalition weitgehend einig, wollen aber dennoch warten, ob es eine norddeutsche Lösung geben könnte. Ich appelliere gleichzeitig an die Bürger, bleiben Sie bitte vorsichtig und möglichst im schönsten Bundesland. Herr Profesor Krause: Ist es aus epidemiologischer Sicht verantwortlich, zu Ostern nach Mallorca zu reisen? Krause: Mir macht es zumindest Sorgen. Denn es ist leicht vorstellbar, dass man sich dort, wenn viele Menschen aus vielen Nationen zusammenkommen, leichter infizieren kann, als wenn man hier bleibt. Man wird auf Mallorca einkehren und es wird gewiss zu einer Erhöhung der Fallzahl in Deutschland beitragen. Also aus rein epidemiologischer Sicht ist ein solcher Mallorca-Besuch problematisch. Von Michael B. Berger