Stellenabbau bei Enercon: „Das ist eine Katastrophe für Aurich“

An diesem Mittag sitzt Horst Feddermann in seinem Büro – ausnahmsweise. Sonst ist der Bürgermeister (parteilos) derzeit viel unterwegs. Sein Kalender ist voll, er eilt von Termin zu Termin. Erst seit gut zwei Wochen trägt Feddermann die Verantwortung in Aurich – und schon muss er eine schwere Krise bewältigen. Kurz nach seinem Amtsantritt Anfang November kündigte der örtliche Windanlagenhersteller Enercon an, 3000 Stellen zu streichen. Alleine in Ostfriesland sollen rund 1500 Menschen ihre Arbeit verlieren, die restlichen Jobs fallen in Magdeburg weg. „Wo sollen so viele Arbeitslose hin, was passiert mit den Familien vor Weihnachten, was wird aus der Stadt?“, sagt Feddermann. „Das ist eine Katastrophe für Aurich.“ Marktführer in Deutschland: Die 42 000-Einwohner-Stadt unweit der Nordseeküste lebt weitgehend von der Windkraft. Dies liegt vorwiegend an der Firma Enercon, die Aloys Wobben im Jahr 1984 hier gründete. Tausende Menschen fanden Arbeit beim Bau von Windkraftanlagen. Enercon ist derzeit deutscher Marktführer und ein Global Player. In der Stadt war man sich deshalb sicher: Mit der Windkraft und Enercon sind die Zukunftsaussichten rosig. Schon bald aber sollen Rotorblätter im Ausland produziert werden. Das Wetter in Aurich spiegelt an diesem Tag die allgemeine Gemütslage wider. Dunkle Wolken und dünner Nebel trüben den Blick, es regnet. Viele der inhabergeführten Läden öffnen gerade ihre Türen, wenige Touristen schlendern durch die Gassen um den Marktplatz. Die Stadt rüstet sich für die Weihnachtszeit. Arbeiter stellen den großen Tannenbaum auf. Enercon aber dominiert die Stadtgespräche. Zwei junge Männer diskutieren vor ihren Geschäften über den Stellenabbau. „Das ist ziemlich dreist“, sagt einer der beiden, die ihren Namen im Zusammenhang mit diesem Thema nicht nennen wollen. Damals, als er zur Schule ging, habe man ihm gesagt: Schau, dass du zu Enercon kommst, sagt der andere. Derzeit wirkt die für die Energiewende wichtige Industrie nicht mehr so zukunftsträchtig – zumindest in Deutschland. Enercon arbeitet am „Turnaround“: Die Zahl der Windkraftanlagen an Land liegt mit mehr als 29 000 auf dem Höchststand. Alleine in Niedersachsen stehen mehr als 6000, ein großer Teil in Ostfriesland. Enercon beschäftigt inklusive der Zulieferbetriebe in der Region 4500 Menschen. Seit 2017 werden in der Branche allerdings schrittweise Arbeitsplätze abgebaut. Die Unternehmen des Wirtschaftszweigs haben nach Angaben des Bundesverbands Windenergie in den vergangenen neun Jahren nie weniger neue Anlagen gebaut als 2018. Dies wirkt sich auch in der Bilanz von Enercon aus: 200 Millionen Euro Verlust hat das Unternehmen nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr gemacht. Nun reagiert Enercon mit drastischen Mitteln. „Turnaround“, nennt das die Geschäftsführung. Im Auricher Rathaus rüstet man sich derweil für finanzielle Einbußen. Wegen des Stellenabbaus befürchtet Bürgermeister Feddermann in der sonst eher wohlhabenden Kommune sinkende Steuereinnahmen und eine geringere Kaufkraft. Nicht viele Jobalternativen an der Küste: Der Arbeitsmarkt an der Küste bietet den Beschäftigten, die ihre Stelle verlieren, nicht viele Alternativen. Aurich wurde mit den Jahren stark abhängig von der Windindustrie. „Es ist einfach so passiert“, sagt Feddermann. Für die Stadt wäre es fatal gewesen, die lange boomende Industrie nicht zu fördern. Im Ortsteil Sandhorst liegt ein Zulieferbetrieb, der für Enercon exklusiv Rotorblätter herstellt. Die Mitarbeiter strömen nach dem Schichtwechsel auf den Parkplatz vor der großen Produktionshalle. Viele wollen in diesen Tagen lieber nichts zur Lage bei Enercon und seinen Zulieferern sagen. Ein Mitarbeiter erzählt dann doch, wie es im Inneren aussieht. Seinen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Es sei schwer, die Arbeiter nach dem Schock noch zu motivieren. Die meisten warteten nur noch darauf, was der Betriebsrat mit dem Unternehmen aushandele. „Früher dachten wir, wir wären Enercon – jetzt sind wir nur noch Nummern“, sagt der Mann. „Hier vor Ort gibt es ja sonst nichts.“ Warum die Wut der Arbeiter hier noch nicht zu Protestaktionen gegen den drastischen Jobabbau führte, erklärt Thomas Gelder von der IG Metall Leer-Papenburg. Am vergangenen Sonnabend organisierte er ein Treffen mit Enercon-Beschäftigten und Vertretern der niedersächsischen Landesregierung in Aurich – nur 50 Personen kamen. Um auf die Veranstaltung hinzuweisen, hatte die Gewerkschaft zuvor auf dem Mitarbeiterparkplatz Flugblätter verteilt. Sicherheitskräfte des Unternehmens hätten die Gewerkschafter dabei behindert und des Platzes verwiesen, berichtet Gelder. Dies mache deutlich, „welches Bild von Mitbestimmung“ Enercon habe. „Die Protestmobilisierung funktioniert nicht, weil Enercon die Mitarbeiter unter Druck setzt.“ Enercon-Geschäftsführer Hans-Dieter Kettwig weist die Vorwürfe zurück. Die Unternehmensleitung übe weder Druck aus, noch erzeuge sie Angst, betont er gegenüber der HAZ. „Die Vorwürfe zeichnen ein krasses Zerrbild unseres Unternehmens.“ Bei der Entscheidung zum Stellenabbau will Kettwig bleiben – alternativlos und endgültig, wie er sagt. „Enercon wird in Deutschland keine Rotorblätter mehr fertigen lassen.“ Wenig Kooperation mit der Gewerkschaft: Kettwig von Enercon und Gelder von der IG Metall sind sich darin einig, dass die politischen Rahmenbedingungen für die Windindustrie ungünstig sind. Die Konsequenzen, die die Firma zieht, versteht Gelder allerdings nicht. Weil Enercon sich einer Diskussion mit den Gewerkschaften verschließe, habe man nicht früh genug Kurzarbeit, Qualifizierungen oder Versetzungen in andere Bereiche ermöglichen können. Jahrelang sei Enercon subventioniert worden – nun stehle sich die Firma aus der Verantwortung für die Region, und die Mitarbeiter säßen auf der Straße, sagt Gelder. Am Mittwoch hat auch eine Taskforce mit Vertretern der Landesregierung, der Gewerkschaft und des Unternehmens keinen Kompromiss gefunden. „Es ist ernüchternd“, sagt Gewerkschafter Gelder. Bürgermeister Feddermann hofft angesichts der Turbulenzen bei Enercon: „Aurich darf nach dem Trubel nicht vergessen werden.“ Lesen Sie auch: Einschüchterung? Weil sorgt sich um Enercon-Mitarbeiter Kommentar: Enercon zahlt den Preis für strategische Fehler „Zusammenbruch der deutschen Windindustrie“: Enercon streicht 3000 Stellen Von Sebastian Stein

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