Trendsport Poledance begeistert auch in Göttingen

Wenn Michelle Lindemann sich in die Luft erhebt, wirkt es, als würde sie mit den Gesetzen der Schwerkraft brechen. Mit konzentriertem Blick nimmt die sportliche 41-Jährige ein paar Schritte Anlauf, umfasst die senkrechte Stange mit beiden Händen und stößt sich kraftvoll vom Boden ab. Elegant schwingt sie beide Beine über ihre Kopf in die Luft und hält sich nur mit der Kraft ihrer ausgestreckten Arme. Allein ihre angespannten Muskeln verraten, dass die Figur an der Stange viel anstrengender ist, als es ihr Lächeln vermuten lässt. Vor einem Jahr hat Michelle Lindemann Göttingens erstes Poledance-Studio „Vertical Arts” in der Nähe der Göttinger Innenstadt eröffnet. „Für mich ist das nicht nur ein Sport, sondern ein Lifestyle”, sagt sie. Mit seinem großen Spiegel, dem warmen Licht und den an der Wand verteilten Bildcollagen erinnert der Raum an ein Yoga- oder Ballettstudio. Doch anstatt einer waagerechten sind sieben senkrechte – an Boden und Decke befestigte – Stangen im Raum verteilt. Daran lernen Lindemanns Kursteilnehmerinnen den Tanz an der Stange. Wer da an verruchte Nachtclubs denkt, liegt falsch. Denn längst hat sich Poledance, eine Mischung aus Akrobatik, Ganzkörpertraining und Tanz, vom Image der erotischen Unterhaltung verabschiedet und ist zur Trendsportart geworden. Allein die Website pole-studios.de zählt an die 200 Studios in Deutschland. Und auch in TV-Talentshows wie „Das Supertalent” steht die Stangenakrobatik seit einigen Jahren auf dem Programm. Titanic, Seahorse und Banana Split: Beim Poledance werden an einer festen oder drehbaren Stange (englisch: pole) verschiedene Figuren, sogenannte Spins und Tricks, dargestellt. Die haben, ebenso wie jeder Griff, eigene Namen. Figuren wie die „Titanic”, das „Seahorse” oder der „Banana Split” erforderten viel Kraft und Körperbeherrschung, erklärt Lindemann. „Die Kunst ist, dass die wahnsinnig anstrengenden Bewegungen leicht und schwerelos aussehen.” Zu den akrobatischen Figuren kommen tänzerische und theatrale Elemente. „Jeder kann da seinen eigenen Stil einfließen lassen”, sagt Teilnehmerin Sabine Arnold (43). Beide Frauen tragen kurz geschnittene und eng anliegende Sportkleidung. Das hat wie in anderen Sportarten auch eher praktische als ästhetische Gründe. „Je mehr Haut, desto mehr Halt” – so die Faustregel. Sofort Feuer und Flamme: Die langjährigen Freundinnen entdeckten vor fünf Jahren gleichzeitig ihre Faszination für den Sport. „Nachdem ich eine Poledance-Performance im Fernsehen gesehen habe, habe ich gleich nach einem Studio gesucht”, berichtet Lindemann. „Ich war sofort Feuer und Flamme.“ Aus Ermangelung eines lokalen Angebots fuhren die Freundinnen mehrere Jahre jede Woche in die Nähe von Kassel, bis in Lindemann der Traum von einem eigenen Studio immer größer wurde. Vorher musste sie noch einige Hürden überwinden. Da Poledance in Deutschland noch kein offizieller Sport ist, können sich angehende Trainer nur über internationale Anbieter zertifizieren lassen. Eine solche Xpert-Zertifizierung absolvierte sie im Mai 2018. „Dann hat mein Mann einen geeigneten Raum entdeckt”, erinnert sich die Trainerin, „der war zwar ziemlich heruntergekommen, aber ich hatte sofort eine Vision, wie es später aussehen könnte.“ In Eigenregie bauten die beiden den Raum zu dem heutigen Studio um. Hohe Resonanz: Seit 2019 bietet Michelle Lindemann dort wöchentlich mehrere Poledance-Kurse in verschiedenen Schwierigkeitsgraden an. Auch ein Angebot für Jungesellinnenabschiede steht seit Kurzem auf dem Programm, bei denen sich Bräute mit ihren Freundinnen an der Stange versuchen können. Nach einer pandemiebedingten Pause drehen sich die Stangen seit kurzem wieder. „Bei uns gelten die gleichen Hygieneregeln wie in Fitnessstudios“, erklärt Lindemann, „alle freuen sich, dass es endlich wieder losgeht.“ Alle, das sind an die 50 Frauen zwischen 18 und über 50 Jahren. „Krankenpflegerinnen, Sozialpädagoginnen und Ärztinnen”, so Lindemann. Der Zauber des Sports entstehe vor allem durch die Gruppenenergie: „Durch die geteilten Erfolgserlebnisse und die gemeinsame Leistungssteigerung wächst man zusammen.“ Dass bisher nur Frauen an den Kursen teilnehmen, liege laut Lindemann unter anderem an der Nachfrage. „Bisher haben sich kaum Männer bei uns gemeldet.“ Bei einem größeren Interesse würde sie jedoch in Betracht ziehen, ihr Kurs-Programm auch für Männer zu öffnen. Wichtig sei jedoch, einen geschützten Raum zu bewahren. Der sei Grundvoraussetzung für ein entspanntes Training. Für jeden geeignet: „Ausprobieren kann Poledance jeder, der interessiert ist“, sagt Lindemann. Eine gewisse Grund-Fitness erleichtere den Einstieg, sei aber keine Voraussetzung. Auch ein höheres Gewicht stelle kein generelles Hindernis dar. Bei einem Probetraining könnten Interessierte ihre Vorstellungen mit der Realität des Trainings abgleichen. "/> Ein gewisses Verletzungsrisiko birgt das Turnen an der Stange schon. Und auch blaue Flecken gehören anfangs dazu. Doch Pole-Einsteiger ermutigt die Trainerin: „Das wird mit der Zeit besser.“ „Wie oft man trainiert, hängt von den eigenen Zielen ab“, erklärt sie. Damit die Bewegungen jedoch so schwerelos aussähen wie bei geübten „Polerinas“, brauche es Kraft und Übung. „Manche kommen nur einmal die Woche und genießen die Atmosphäre.”, so Lindemann.“ Es gibt aber auch super Ehrgeizige”, fügt sie lachend mit einem Blick auf Sabine Arnold hinzu, “die trainieren mehrmals die Woche hier im Studio und zusätzlich zu Hause.” Die Wurzeln des Pole-Sports liegen im frühen chinesischen Zirkus. Hier galt die Akrobatik an der Holzstange noch als reine Männerdomäne. In den 1950er Jahren traten im US-amerikanischen Wanderzirkussen vermehrt weibliche Künstlerinnen auch zur erotischen Unterhaltung auf. So fand Pole-Dance seinen Weg erst in die US-amerikanische und von da in die weltweite Erotikbranche. In den 1860er Jahren eröffneten immer mehr Poledance-Studios für professionelle Erotik-Tänzerinnen, in denen ab den 1980er Jahren dann auch als Fitness-Kurse an der Stange für die breiteren Massen angeboten wurden. In den Jahren 2000-2006 etablierte sich Pole-Dance als Sportart. Seit 2009 organisiert die International Pole Sports Federation (IPSF) Wettkämpfe und Meisterschaften. 2015 gründete sich die “Organisation des deutschen Pole Sports”, die sich für die Schulung von Trainern und Wettkampfrichtern engagiert. Mehrere internationale Initiativen setzen sich seit einigen Jahren sogar für die Aufnahme von Pole-Dance in den Kanon der olympischen Disziplinen ein. Mehr als nur ein Sport: „Für mich war Poledance eine Offenbarung“, erinnert sich Arnold, für die der Tanz ein Weg ist, sich körperlich auszudrücken und selbst gesteckte Ziele zu erreichen. „Aber auch zu meinem Berufsalltag ist der Sport ein guter Ausgleich. Ich arbeite im Vertrieb und sitze dafür viel im Auto.“ Poledance habe sie fitter gemacht und ihr Körperempfinden geschult, berichtet die 43-jährige begeistert. Wie für Lindemann ist Poledance für sie längst mehr als nur ein Sport. „Für mich ist das eine Leidenschaft und ein Lebensgefühl.“ Vorurteile seien ihr dabei nur anfänglich und auch nur vereinzelt begegnet. „Die meisten Leute sind begeistert“, berichtet die Hobby-Akrobatin, die Videos ihrer Choreographien in den sozialen Medien teilt. Einige Freundinnen hat Arnold so schon für den Sport begeistert. Und auch die Stange, die die Pole-Enthusiastin in ihrem Wohnzimmer angebracht hat, übe auf die meisten Besucher eine besondere Anziehungskraft aus. „Eigentlich will jeder das sofort ausprobieren.“ Das „Vertical Arts - Pole & Aerial Dance Göttingen“ erreichen Sie per E-Mail an verticalarts-goettingen@web.de. Sie erreichen die Autorin per E-Mail an lokales@goettinger-tageblatt.de. Von Hannah Rudolph