Erstklässler in Corona-Zeiten: So läuft das erste Schuljahr an Grundschulen im Landkreis Göttingen

Etwa 280.000 Kinder besuchen die mehr als 1600 Grundschulen in Niedersachsen. Für die Mädchen und Jungen, die im Sommer 2020 in Stadt und Landkreis Göttingen eingeschult wurden, war der erste Schultag sicher ein ganz besonderer Tag – so wie für Generationen von Erstklässlern vor ihnen. Doch sie kennen keinen Schulalltag ohne Masken, Lüften, Abstands- und Hygieneregeln. Corona begleitet sie von Anfang an in ihrem Schülerdasein. Wie wirkt sich das auf das Lernen der Grundlagen wie Lesen, Schreiben oder Rechnen aus? Können die Lehrkräfte den Stoff vernünftig vermitteln? Und welche Auswirkungen hat es, dass die Schuleingangsuntersuchungen zum Teil entfallen sind? Pädagogen berichten in einer ersten Zwischenbilanz von ihren Erfahrungen. Auswirkungen auf den Lernfortschritt: „Das Lernen geht etwas langsamer als im Präsenzunterricht, weil kontinuierliche Wiederholungen notwendig sind, um bei allen Kindern die Kompetenzen zu sichern“, berichtet Andrea Ohse, Schulleiterin an der Paul-Maar-Grundschule in Hilkerode. Elf Erstklässler sind Teil dieses Jahrgangs. Zurzeit werde im sogenannten Szenario B unterrichtet – jeweils die halbe Klasse ist im Wechsel in der Schule oder lernt zuhause. Niedersachsen hält im Gegensatz zu vielen anderen Bundesländern am Wechselunterricht für Grundschüler fest. Gleichwohl steht den Eltern frei, ob sie ihren Sprössling in die Schule schicken oder das Kind im Homeschooling unterrichtet wird. Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) sagte vergangene Woche: „Ich halte es ausdrücklich für richtig, dass ein Schulbesuch für Grundschülerinnen und Grundschüler weiterhin möglich ist.“ Kerstin Scharf, Klassenlehrerin der Erstklässler an der Paul-Maar-Grundschule, sagt, dass der Unterrichtsstoff nach den Vorgaben des Kultusministeriums gekürzt wurde. „Die Vermittlung von Grundkompetenzen steht klar im Vordergrund.“ Im Wechselmodell seien deutlich mehr Deutsch- und Mathematikstunden im Stundenplan als in einem normalen Schuljahr durch die Stundentafel vorgegeben werde, ergänzt Ohse. Viele offene und kooperative Lernformen seien unter Corona-Bedingungen jedoch nicht durchführbar. Dadurch sei der Unterricht weniger abwechslungsreich. „ Einige Kinder bekommen im Homeschooling sehr viel Unterstützung von den Eltern und haben den Lernstoff erfasst und geübt“, so die Erfahrung aus Hilkerode. „Kinder aus den bildungsfernen Elternhäusern bearbeiten die Aufgaben ohne oder mit wenig Hilfe und kommen mit lückenhaften Kompetenzen in den Unterricht. Teilweise werden Aufgaben auch gar nicht bearbeitet, dann fehlen die Grundlagen für eine Weiterarbeit im Unterricht völlig“, so die Erfahrungen der Klassenlehrerin. Es werde versucht, die schwächeren Schüler „in die Notgruppen aufzunehmen, damit sie dort unter Anleitung ihre Aufgaben erledigen und so wenigstens etwas zusätzliche Förderung bekommen“. Und noch etwas haben die Pädagoginnen rückblickend auf das erste Schulhalbjahr festgestellt: „Die Schüler arbeiten unkonzentrierter, weil sie keinen gewohnten Arbeitsrhythmus haben.“ Sie würden immer wieder herausgerissen, „erst gemeinsamer Unterricht, dann Homeschooling, dann Wechselmodell und nun Wechselmodell mit möglicher Befreiung von der Präsenzpflicht“, so Schulleiterin Ohse. Herausforderungen an den Unterricht: Das Corona-Schuljahr bedeutet für die Lehrkräfte, dass noch stärker differenziert werden müsse, um allen Schülern gerecht zu werden. Scharf zählt auf: „Wochenpläne mit differenzierten Aufgabenstellungen herausgeben, am Wochenende einsammeln und korrigieren (für Zeiten des Homeschoooling)...“ Der Wechselunterricht müsse so gestaltet werden, dass die Schüler der beiden Gruppen am Ende auf dem gleichen Stand stehen. Die Corona-Pandemie bringt darüber hinaus besondere Herausforderungen für die Grundschulen mit sich. „Im Sprachunterricht oder auch in Klasse eins ist der Unterricht mit Maske nicht immer durchführbar, weil Mundstellung und Aussprache nicht deutlich erkennbar und hörbar sind“, sagt Scharf. Außerdem sei es im Homeschooling schwierig, den Stoff zu vermitteln, „weil Videokonferenzen oder die Arbeit am PC in einer ersten Klasse ohne Unterstützung der Eltern kaum möglich ist“, berichtet die Klassenlehrerin. Die Eltern seien „digital sehr unterschiedlich ausgestattet“ und hätten „auf diesem Gebiet auch sehr unterschiedliche Kompetenzen“. Einige Schüler benötigten Leihgeräte (Tablets/iPads), die ihnen zur Verfügung gestellt wurden, ergänzt Schulleiterin Ohse. Darüber hinaus „musste eine Plattform gefunden werden, über die wir mit allen Eltern und Schülern in Kontakt treten konnten (schul.cloud) und die datenschutzkonform ist“. Durch das Homeschooling-Wechselmodell werden den Beobachtungen von Ohse und Scharf „die sozialen Kontakte innerhalb der Klasse erschwert. Das Gemeinschaftsgefühl entwickelt sich nicht so gut“, haben die Pädagoginnen an der Hilkeröder Grundschule festgestellt. Folgen fehlender Schuleingangsuntersuchungen: Zu den Besonderheiten der Einschulungen im Corona-Jahr 2020 zählte auch der Wegfall der Schuleingangsuntersuchungen. „Das hat für uns bedeutet, dass wir die Kinder in den ersten Wochen sehr genau beobachten mussten, um möglichst schnell zu erkennen, wo Schwächen oder Probleme liegen“, sagt Scharf. An der Grundschule Hilkerode seien eigene Testverfahren durchgeführt worden, „um festzustellen, auf welchem Stand die Kinder sind, um dann besser fördern zu können“. Scharf ergänzt: „Ein großes Problem war, dass natürlich auch Kinder eingeschult wurden, die nicht schulreif waren. Diese Kinder mussten besonders intensiv gefördert werden, und brauchten viel Aufmerksamkeit.“ Doch wie wird reagiert, „wenn die Voraussetzungen trotz intensiver Förderung der Sozialkompetenz und der schulischen Vorläuferfähigkeiten nicht erreicht wurden?“ Dazu die Schulleiterin: In diesen Fällen „blieb nur eine Zurückstellung (in Absprache mit den Eltern)“. Klassenlehrerin Scharf: „Diese Kinder haben viel Kraft gekostet und auch den Tagesablauf in der Klasse erheblich beeinflusst.“ Sollte das Schuljahr wiederholt werden? Diskutiert wird derzeit auch die Frage, ob das Schuljahr wiederholt werden sollte. „Sicher müssten nicht alle Schüler das Schuljahr wiederholen“, meint die Schulleiterin aus Hilkerode. „Das wäre auch nicht sinnvoll, weil die Schüler, die die Kompetenzen erreicht haben, gut in Klasse zwei arbeiten können.“ Für die schwächeren Kinder indes könnte eine Wiederholung nach ihrer Ansicht „ein sinnvolles Angebot sein, damit die erworbenen Kompetenzen gesichert und gefestigt werden könnten“. Ohse: „Das macht für diese Kinder viel Sinn, weil sie sonst durch ihre ganze Grundschulzeit und vielleicht auch darüber hinaus mit Lernproblemen kämpfen müssen. Im ersten Schuljahr werden nun einmal die Grundlagen für das Lesen, Schreiben und Rechnen gelegt.“ Würde das Schuljahr wiederholt, sieht die Schulleiterin ein mögliches Problem: „Die Klassenstärken würden sich durch eine Wiederholung vieler Kinder erhöhen. In einigen Schulen könnte es dadurch vielleicht zu Raumproblemen kommen. Das würde ich für die Paul-Maar-Schule aber nicht sehen“, so Ohse. „Wir legen den Schwerpunkt auf die Hauptfächer“: Keine wirklich speziellen Hürden für Erstklässler sieht die Leiterin der Grundschule im Drammetal, Susanne Jordan. Nach Rücksprache mit den Klassenlehrern zieht sie das Fazit, dass die Erstklässler recht gut beschult werden können. Das liege zum einen an den recht kleinen Klassen von 17 Schülern, aber auch am variabel gestalteten Unterricht; Jordan gebraucht das Wort Kontingentstundentafel. „Wir legen den Schwerpunkt auf die Hauptfächer Deutsch und Mathematik“, sagt die Schulleiterin. Lesen Sie auch: Corona: Was gilt aktuell für die Grundschulen im Kreis Göttingen? In der Praxis bedeute es, dass der Lernstoff bis zum Ende der zweiten Klasse durchgenommen werden muss – aber wann genau, liegt im Ermessen der Klassenlehrerinnen. Die haben eigene Lernvideos erstellt, die als E-Mail-Anhang an die Schüler verschickt werden. „Ziemlich professionell“, würdigt Jordan die Kreativität der Kolleginnen. Ein weiterer Vorteil sei, dass der Unterricht in den ersten Klassen allein in Klassenlehrerhand liege, es gibt also keinen Wechsel der Ansprechperson. „Wir können wirklich gezielt auf jeden Schüler eingehen“, versichert Jordan. Was hinten herunter falle, seien soziale Dinge. Das Fehlen des sonst an Schulen üblichen Miteinanders, das persönliche Entwicklungen wie etwa Hilfsbereitschaft fördere, sei durch Distanzlernen nicht in Gänze aufzufangen. „Der Kontakt zum Lehrer ist der Schlüssel zum Erfolg“: Bei der Frage, ob der Lehrstoff unter den gegenwärtigen Bedingungen speziell bei Erstklässlern angemessen vermittelt werden kann, muss Ralph Birkholz nicht lange überlegen. „Der Lernstoff kann nicht angemessen vermittelt werden, wenn zwei Szenarien parallel laufen“, macht der kommissarische Leiter der Hagenbergschule in Göttingen auf die sogenannten Szenarien A, B und C aufmerksam. Lesen Sie auch: Wälzen Sie die Verantwortung auf die Eltern ab, Herr Tonne? „Im Szenario B bearbeiten viele Kinder der bildungsfernen Familien die Unterrichtsmaterialien nicht an den Zu-Hause-Tagen, und erhalten keine oder kaum familiäre Unterstützung. Die Eltern können dies nicht leisten“, weiß Birkholz. Bei den Kindern aus diesem Bereich, bei denen Szenario C beantragt worden ist, wirke sich diese Bedingung noch stärker aus. „Sie werden drei Wochen lang keinen beziehungsweise kaum Kontakt mit der Lehrkraft haben. Beim Schreiben- und Lesen lernen ist der direkte Kontakt zur Lehrkraft der Schlüssel zum Erfolg, das ist zu Hause nicht realisierbar“, so der Schulleiter. Eine Lehrkraft unterrichte in Präsenz in der Schule, erstelle Aufträge für die Tage zu Hause und sei für die Szenario-C-Kinder zuständig, die gar nicht da sind. „Das ist ein riesiger Spagat, der schwer zu leisten ist. Folglich wird die Entwicklung der Kinder in den parallelen Szenarien verschieden verlaufen“, sagt Birkholz voraus. Zu beachten sei, dass die Kinder fünf Stunden in der Schule sind, zu Hause aber nur eineinhalb Stunden in Klasse 1 gearbeitet werde. „Meine Lehrkräfte geben weit mehr als 100 Prozent“: Es gebe aber auch etwas Positives: „Die Kinder, die im Szenario B in der Schule sind, finden sehr kleine Lerngruppen vor. Da ist gute pädagogische Arbeit möglich“, so der Pädagoge. Er fügt an: „Abschließend möchte ich sagen, meine Lehrkräfte geben weit mehr als 100 Prozent. Sie sind weit über das normale Maß engagiert und versuchen, jedem Kind das maximal Mögliche zu geben. Jedes einzelne Kind liegt ihnen am Herzen. Die Hagenbergschule gibt alles, dass kein Kind schulisch zurück bleibt.“ Die Frage, ob es nicht am besten wäre, das gesamte erste Schuljahr zu wiederholen, beantwortet Birkholz mit einem klaren „Nein“. Lernziel bei gleichen Anforderungen nicht für alle erreichbar: Mit Janine Jähnig bringt eine Elternvertreterin aus Göttingen ihre Überlegungen ein. Sie sagt: „Aus persönlicher Erfahrung mit einem Kind in der zweiten Klasse habe ich den Eindruck, dass Kinder, die einen festen Tagesablauf brauchen, sich nur schwer auf neue Situationen oder Menschen einstellen können“ Da sei der Lernfortschritt sicherlich geringer. Bei gleichbleibenden Anforderungen würden diese Kinder das Lernziel nicht erreichen können. „Der Lernstoff kann meines Erachtens nicht so vermittelt werden, wie das normalerweise der Fall wäre. Eltern sind halt keine Lehrer“, so Jähnig weiter. Homeoffice bedeute ja, dass die Eltern zu Hause arbeiten. Die Zeit, dem Nachwuchs die Aufgaben zu erklären, Arbeitsblätter durchzugehen und zu üben, sei folglich knapp bemessen oder eigentlich nicht vorhanden. Zeitdruck und Stress der Eltern würden Kinder nicht gerade motivieren. „Zusätzlich fassen manche Kinder Verbesserungen von nahestehenden Personen als Kritik auf, Wutausbrüche und Blockaden sind oft die Folge“, weiß die Elternvertreterin der Grundschule Boni I. Gesamtes Schuljahr wiederholen eher unrealistisch: Nach Einschätzung der Elternschaft falle in der ersten Klasse der „sanfte Übergang“ vom Kindergarten zur Schule weg, für den normalerweise das erste Schuljahr genug Zeit lasse: wie Kennenlernen der Mitschüler, der Tagesstruktur in der Schule und das Lernen in einem Klassenverband. Es werde auch hier Kinder geben, die damit besser oder schlechter zurecht kommen. „Auch wenn der Gedanke schön ist, das Jahr einfach noch einmal zu machen, halte ich das weder personell noch räumlich für eine Schule für umsetzbar. Es würde ja der jeweils letzte Jahrgang bleiben und ein neuer kompletter Jahrgang hinzukommen. Das hieße für eine Grundschule: Der 1. Jahrgang wäre dann doppelt so groß – eher ein unrealistisches Szenario“, folgert Jähnig. Wahrscheinlicher sei, dass mehr Kinder als sonst eine Klasse wiederholen. Förderbedarf wird womöglich nicht erkannt: Zum Thema Wegfall der Schuleingangsuntersuchungen sagt die Göttingerin: „Es steht zu befürchten, dass bei Kindern, die keine Kita besuchen und sozial eher isoliert aufwachsen, ein eventueller Förderbedarf nicht erkannt werden kann. Der Wegfall der Kitagebühren ist daher sicher doppelt sinnvoll.“ Es sei gut, dass es in Niedersachsen jetzt wieder 13 Schuljahre gebe. „Das gibt mir das Gefühl, dass noch genug Zeit zum Lernen bleibt und Defizite schrittweise aufgeholt werden können. Eine Lösung, die vielleicht den Lehrplan anpasst für die ,Corona-Jahrgänge’ oder ein ,Corona-Förderunterricht’ wären ja denkbar.“ Die grundsätzliche Hoffnung der Zahnärztin: „In irgendeiner Form muss auf die Schüler Rücksicht genommen werden, denn auch von ihnen wird durch die Pandemie viel abverlangt.“ Sie erreichen die Autoren per E-Mail an lokales@goettinger-tageblatt.de. Von Britta Eichner-Ramm und Ulrich Meinhard