Wachkoma nach Unfall: Eltern pflegen ihren Sohn seit 23 Jahren

Ingeborg und Gerhard Hente werden am 31. Januar mit der Verdienstmedaille des Landes Niedersachsen für vorbildliche Verdienste um den Nächsten ausgezeichnet. Das hat einen tragischen Hintergrund. Ihr Sohn Johannes befindet sich nach einem Verkehrsunfall seit 1997 im Wachkoma. Mit der Auszeichnung wird sowohl der jahrzehntelange Einsatz des Ehepaares bei der Pflege ihres Sohnes als auch das langjährige Engagement von Gerhard Hente im Bundesverband Schädel-Hirnpatienten in Not gewürdigt. Es waren nur Sekunden im Januar 1997, die das Leben der Familie aus Hann. Münden auf den Kopf stellten. Nach dem Zivildienst in Süddeutschland hatte Johannes dort eine Krankenpflege-Ausbildung begonnen. Als letztes von vier Kindern war das „Nesthäkchen“ ausgezogen, die Eltern schmiedeten bereits Pläne für den Ruhestand. „Wir waren mit ihm und den Geschwistern zum Jahreswechsel im Bayrischen Wald, weil Johannes am 2. Januar wieder zum Dienst musste“, erzählt Gerhard Hente. Von der Ferienwohnung aus, in der gemeinsam Silvester gefeiert wurde, machte sich Johannes im Auto auf den Weg zur Arbeit. Dort kam er nie an. „20-jähriger Fahrer auf der B 20 schwer verunglückt“, hieß es hinterher in der Lokalzeitung. Ein lapidarer Satz, der nicht erahnen lässt, welch unermessliches Leid ein derartiger Unfall verursachen kann. Nach Familienfeier verunglückt: Auf einer abschüssigen Straße habe Johannes bei tief stehender Sonne an einer Engstelle wegen eines entgegenkommenden Busses stark abbremsen müssen, berichtet sein Vater. Die Räder blockierten, das Auto kollidierte mit dem Bus. Johannes war zwar angeschnallt, sein Auto hatte aber noch keinen Airbag. Mit dem Kopf schlug er gegen Holm und Windschutzscheibe, das Herz hörte auf zu schlagen. Mit schweren Brüchen am Schädel und im Gesicht reanimierte ihn ein Notarzt, mit dem Rettungshubschrauber wurde der junge Mann in die Klinik nach Regensburg geflogen. Als er auf der Intensivstation nach schweren Operationen aus dem Koma auftauchte und wieder die Augen aufschlug, reagierte er nicht mehr. Durch die Schädelverletzungen und Sauerstoffmangel während des Herzstillstands war es zu schwersten Hirnschäden gekommen. Die Ärzte der Neurologischen Abteilung diagnostizierten ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades. Johannes befand sich einem Zustand, der gemeinhin als Wachkoma bezeichnet wird – und der bis heute andauert. Für die geschockten und verzweifelten Eltern begann eine Phase der Unsicherheit, gefolgt von einer Odyssee durch verschiedene Einrichtungen, dem Studium von Fachliteratur und Therapiebemühungen. „Es war nicht klar, ob Johannes durchkommt, wir waren jeden Tag da“, sagt seine Mutter, die nicht von seiner Seite wich. „Ingeborg war drei Jahre nicht zuhause, nur in Nachsorge- und Rehaeinrichtungen, hat ihn dort jeden Tag betreut, hatte aber keine Befugnisse“, erzählt Gerhard Hente. „Wenn man nicht mit in die Reha geht, hilft es wenig“, ergänzt Ingeborg und bedauert den zunehmenden Personalmangel im medizinischen Bereich und der Pflege ebenso wie die begrenzte Budgetierung in der Nachsorge. Lesen Sie mehr: Schädel-Hirnpatienten: Haftungsprobleme und Bürokratie belasten Angehörige Kleinste Fortschritte gemacht: Johannes ist inzwischen 43 und lebt seit zwei Jahrzehnten wieder in seinem Elternhaus, Ingeborg und Gerhard sind beide 83 Jahre alt. Ihren Ruhestand hatten sie sich anders vorgestellt, ihren Sohn haben sie nie aufgegeben, alles Menschenmögliche unternommen, um kleinste Erfolge zu erzielen: Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Musiktherapie. Nicht alles deckt die Kasse ab, auch einige Hilfsmittel bis hin zu einer Therapieliege haben Hentes aus eigener Tasche gezahlt. Alles kreist um Johannes, dessen Blick ins Leere zu starren scheint. Ab und zu bewegt er die Augen, hebt oder dreht den Kopf, dann sackt er wieder in sich zusammen, die Hände verkrampfen, der Kopf kippt nach vorne. Seit 23 Jahren ist nicht ein Wort über seine Lippen gekommen, die Artikulation beschränkt sich auf gelegentliches Summen, Gähnen oder Grummeln. Kleinste Fortschritte gab es tatsächlich. Mehr als zwei Jahrzehnte lang musste Johannes wegen Fehlen des Schluckreflexes über eine Magensonde ernährt und Katheter gewechselt werden. Seit einigen Monaten kann er mit püriertem Brei gefüttert werden. Und schon seit Jahren erfolgen die Ausscheidungen über ein Urinalkondom und einen Toilettenstuhl. Der Muskelabbau nach all den Jahren ist erheblich. „Wir steuern mit Physiotherapie, Stehstuhl und motorgetriebenem Radtainer dagegen, das ist aber nur begrenzt möglich.“ Mangels Bewegung musste Johannes mehrfach wegen Nieren- und Blasensteinen behandelt werden. Um die Würde ihres Kindes zu wahren, übernehmen die Eltern weitgehend die Intimpflege. Um Johannes zu motivieren, lassen sie ihn am Alltag partizipieren – immer mittendrin und doch im Abseits. Auch beim Gespräch mit dem Tageblatt-Redakteur sitzt Johannes mit am Tisch. Seine Mutter und Tanja Görtelmeyer haben ihn mit einem geschulten Griff, dem sogenannten „Australischen Lift“ aus dem Pflegebett in den Rollstuhl gehievt. Görtelmeyer ist Mitarbeiterin beim ambulanten Pflegedienst Emmacura-Linke und schon seit 20 Jahren bei Hentes im Einsatz. Statt nur morgens kommt inzwischen auch nachmittags eine Pflegekraft. Die Eltern packen zu, wo sie nur können. Das wird aber zunehmend schwieriger. Seit Gerhard vor einigen Monaten einen Herzinfarkt erlitten hat, soll er Johannes vorübergehend nicht tragen. Wohnhaus umgebaut: Was Johannes wirklich wahrnimmt und empfindet, wie weit sich sein Geist zurückgezogen hat, welche Angebote ihn erreichen, wissen seine Eltern nicht. Das bleibt Interpretationssache, obliegt Mutmaßungen und emotional beeinflussten Einschätzungen. Das Bewusstsein lässt sich nicht messen. Seine Eltern sind sich sicher, dass Johannes alles um ihn herum mitbekommt. Aus Unkenntnis würden Betroffene oft vernachlässigt und emotional vereinsamen. „Ich sehe ihn nicht im Wachkoma“, sagt Ingeborg Lieber. Hinter dem Begriff würden sich unterschiedlichste Symptomatiken und neurologische Ausfälle verbergen. Stattdessen spricht sie von einem unklaren Dämmerzustand, von verlangsamten Reaktionen und Aufmerksamkeitsschwankungen. Die Kunst liege in der richtigen Ansprache. Die meisten Menschen verbinden ein Wachkoma damit, dass der vom apallischen Syndrom Betroffene nur regungslos im Bett liegt. Das sei aber ein Irrglaube, ebenso wie das Aufwachen aus dem Koma mit vollem Bewusstsein von einem Tag auf den anderen, meint Ingeborg: „Das gibt es nur in seltenen Ausnahmefällen und Filmen.“ Die sogenannte Remission, das Nachlassen von Krankheitssymptomen, sei in unterschiedliche Phasen unterteilt, bei vielen Patienten mit Hirnschädigung nicht zu erwarten. Auch Hentes rechnen nicht mehr damit, versuchen stattdessen, Johannes am Alltag teilhaben zu lassen. Sie haben sich einen Caddy zugelegt, nehmen ihn so oft wie möglich mit, waren mit ihm im Strandrollstuhl auch schon auf Spiekeroog. An Motivationshilfe und Angeboten mangelt es nicht. Dazu gehört auch ein Klangstuhl. Vor seinem Unfall war Johannes ein begeisterter Musiker, hat Gitarre und Flöte, im Bläserkreis der Kirche Trompete gespielt und im Kantoreichor gesungen, in Bayern mit Dixie-Jazz begonnen. Jetzt kommt die Musik – wie alles andere – nur noch von außen. Die vertraute Elternhaus-Umgebung wurde den Erfordernissen und Bedürfnissen des Sohnes angepasst. Das Wohnhaus im Bauhaus-Stil in einer ruhigen Stichstraße haben Hentes, die in diesem Jahr Diamantene Hochzeit feiern, vor 50 Jahren gebaut. Um Platz für Therapieliege, Pflegebett und Rolli zu schaffen, wurde ein Wintergarten angebaut, Bad und Gartenwege barrierefrei umgestaltet, Rampen und Griffe eingebaut. Sorge um die Zukunft: „Johannes ist wie vereist, der Geist hat sich zurückgezogen“, sagt Ingeborg, während sie ihrem Sohn liebevoll über die Wange streichelt: „Entscheidend ist menschliche Zuwendung.“ „Wenn man keine Antwort bekommt, neigt man dazu, mit der Ansprache aufzuhören“, nennt Gerhard ein Problem vieler Angehöriger. Viele junge Familien wären mit der Situation überfordert, mutmaßt seine Frau. Zum Glück habe Johannes „alte Eltern“, die sich mit ganzer Kraft und voller Zeit um ihn bemühen können. Die Zukunft macht Hentes allerdings große Sorgen. Sie können nicht ewig für ihren Sohn dasein, haben schon eine mögliche Einrichtung sondiert, die aber weder attraktiv noch finanziell machbar sei. „Irgendwann wird uns das Heft aus der Hand genommen.“ Hentes wollen aber nicht die Leidensgeschichte in den Vordergrund stellen. Die Herausforderung halte sie auch jung, sagt Ingeborg und spricht von einem menschlichen Gewinn: „Die gesamte Lebenseinstellung hat sich geändert.“ Ihr Umgang mit der Situation ist eine Paradebeispiel dafür, was die Macht der Liebe zu bewirken vermag und welche Kräfte sie wecken kann. Seit 1984 gibt es in Niedersachsen die Verdienstmedaille des Landes für vorbildliche Verdienste um den Nächsten. Damit wird das Ehepaar Hente im Namen des Ministerpräsidenten am 31. Januar in Hann. Münden von Kreisrat Marcel Riethig ausgezeichnet – auf Vorschlag von Armin Nentwig, Gründer und Vorsitzender des Bundesverbandes Schädel-Hirnpatienten in Not, in dem sich Hentes engagiert haben. Ganz recht ist ihnen der Rummel nicht. „Jede Mutter hätte so gehandelt“, meint Ingeborg Hente und verweist auf all die Menschen, die mit viel Leid zu kämpfen haben und die Auszeichnung verdient hätten. Stellvertretend für alle Betroffenen wollen Hentes die Medaille entgegennehmen und auf die Situation von Wachkoma-Patienten und deren Angehörigen aufmerksam machen. Die staatliche Auszeichung betrachten sie auch als Würdigung des Einsatzes für Behinderte. Häufig seien es junge Männer, die nach schweren Unfällen zumeist von ihren Familien aufgefangen würden. Lesen Sie auch: Nach 27 Jahren aus dem Koma erwacht Behandlungsstopp nach langjährigem Rechtsstreit Wachkoma-Gesellschaft kümmert sich um Betroffene Von Kuno Mahnkopf

Leid und Liebe - Wachkoma nach Unfall: Eltern pflegen ihren Sohn seit 23 Jahren