Forscher: EU-Migrationspolitik spielt mit dem Leben von Flüchtlingen
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Nach der Schließung der Balkanroute 2016 ist es zu Demonstrationen gekommen.
© Quelle: dpa
Göttingen. Wissenschaftler haben harsche Kritik an der Flüchtlingspolitik der Europäischen Union geübt. „Wir sehen, dass die seit 2015 forciert eingeschlagene Politik der EU und ihrer Mitgliedsländer, die Grenzen gegenüber Fluchtmigranten dichtzumachen, mit dem Leben der Flüchtenden spielt“, sagte die Göttinger Migrationsforscherin Sabine Hess. „Mehr noch, sie widerspricht den Schutzgeboten, wie sie die internationale Flüchtlingskonvention oder die europäische Menschenrechtscharta vorsehen.“
Hess ist Leiterin eines von der Universität Göttingen koordinierten Forschungsprojektes der EU, das die Erfahrungen von Flüchtlingen auf der sogenannten Balkanroute dokumentiert. Dazu haben die Wissenschaftler mehr als 500 Geflüchtete befragt. Ein nun vorgelegter Bericht beschreibt die Risiken, die verschiedenen Formen von Gewalt, Entbehrungen und Leid, mit denen die Flüchtlinge zwischen 2013 und 2018 auf ihrem Weg nach Europa konfrontiert waren.
Die Entwicklungen der Sommermonate 2015, als nahezu eine Million Menschen es schafften, auf der sogenannten Balkanroute nach Nordeuropa zu fliehen, wurden in der europäischen Öffentlichkeit und Politik schnell als „europäische Flüchtlingskrise“ bezeichnet. Bis heute hat sich die europäische Asyl- und Migrationspolitik nicht wieder konsolidiert.
In der öffentlichen Diskussion werden die Erfahrungen der Flüchtenden selbst nur selten gehört. Der Bericht „Border Experiences and Practices of Refugees“ (Grenzen: Erfahrungen und Praktiken von Geflüchteten) des EU-Forschungsprojekts „Multilevel Governance of Mass Migration in Europe and beyond (Respond)“ basiert auf 507 Interviews mit Geflüchteten aus verschiedenen Herkunftsregionen. Er beschreibt anschaulich die Risiken, die verschiedenen Formen von Gewalt, Entbehrungen und Leid, mit denen die Geflüchteten in Folge der vorherrschenden europäischen Migrations- und Grenzpolitik zwischen 2013 und 2018 auf ihrem Weg nach Europa konfrontiert waren.
„Der Bericht zeigt sehr klar, dass es eine direkte Korrelation zwischen dem Ausmaß an lebensbedrohlichen Risiken und Menschenrechtsverstößen an den Grenzen sowie den Migrations- und Grenzpolitiken der EU gibt“, erklärt Studienleiterin Prof. Sabine Hess von der Universität Göttingen. Die detailreiche empirische Datengrundlage des Berichts, die auf Erhebungen in elf beteiligten Projektländern fußt, ermöglicht insbesondere einen Vergleich der Balkan- mit der zentralen Mittelmeerroute, die in den vergangenen Jahren tausende Menschenleben kostete. Der Vergleich zeigt, dass für die meisten Flüchtenden die Balkanroute in den wenigen Monaten 2015/2016 alles andere als eine „Krisenerfahrung“ war, trotz aller Schwierigkeiten und trotz aller leidvoller Erfahrungen. Vielmehr lässt sich die Balkanroute dieser Monate, so die Rekonstruktionen des Interviewmaterials, als absolute humanitäre Ausnahme bezeichnen.
„Zurückblickend lässt sich sagen, dass 2015 einer der wenigen historischen Momente in der europäischen Geschichte darstellt, in der Staaten versucht haben, einen humanitären Flucht-Korridor zu errichten“ so Ko-Autor Vasileios Petrogiannis von der Universität Uppsala in Schweden. „Übrigens auch eine effektive Strategie gegen Menschenschmuggel und -handel – denn heute blüht dieses Geschäft wieder, gerade wegen der europäischen Politik der Kriminalisierung von Fluchtmigration sowie von zivilgesellschaftlicher Hilfe.“
Auswirkungen der der europäischen Migrations- und Grenzpolitik
Darüber hinaus verdeutlicht der Bericht auch, dass die Ausrichtung der europäischen Migrations- und Grenzpolitik – beispielsweise in Form des EU-Türkei-Deals – gravierende räumliche Auswirkungen bis weit über die europäischen Außengrenzen hinaus hat. Die Grenz- und Migrationskontrollpolitik der EU bestimmt entlang des gesamten „Reise-“weges, wie die Flucht erfolgen kann, also legal oder illegal, dokumentiert oder undokumentiert. Auch die topografische und praktische Natur der Routen, etwa durch Abdrängen in immer unsicherere und schwierigere topographischen Bedingungen in Berggebiete, Wüste oder ans Meer, sei dadurch beeinflusst. Und auch die möglichen Transportmittel wie Lastwagen oder Container sowie die notwendigen beziehungsweise verfügbaren logistischen Infrastrukturen folge bestimmten Voraussetzungen der Politik.
Der Bericht "Border Experiences and Practices of Refugees" wurde auf Englisch veröffentlicht und kann hier heruntergeladen werden.
Von epd / pug
GT/ET