Nida-Rümelin und die Ethik der Migration
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Julian Nida-Rümelin, Philosophie-Professor und Kulturstaatsminister a.D.
© Quelle: Niklas Richter
Göttingen. Es sei „ein besonderes Gefühl, nach Göttingen zu kommen“, sagte Julian Nida-Rümelin. Der Münchener Philosoph und Kulturstaatsminister a.D. war zehn Jahre lang Professor an der Georgia Augusta und hat beim Göttinger Literaturherbst in der Paulinerkirche sein Buch „Über Grenzen denken: Eine Ethik der Migration“ vorgestellt.
Ein public intellectual
Drei wichtige Rollen fülle Nida-Rümelin aus, erklärte der Philosophie-Professor Holmer Steinfath, Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, zu Beginn der Veranstaltung. Zum einen sei er ein anerkannter Fachphilosoph. Er lehre in München, war Ordinarius für Philosophie in Göttingen. Und er beschäftige sich mit politischer Philosophie. Zum anderen sei er ein politisch engagierter Bürger, Mitglied der SPD und in der Schröder-Regierung Kultur-Staatsminister gewesen. Schließlich sei er ein so genannter public intellectual, der seine philosophischen Überzeugungen nachvollziehbar und verständlich in Debatten einbringe. Genau das macht Nida-Rümelin auch mit seinem aktuellen Buch „Über Grenzen denken: Eine Ethik der Migration“.
In der Paulinerkirche führte er kurz in die Thematik ein. Er erinnerte an die Entscheidung, die Grenzen nicht zu schließen und die Flüchtenden nach Deutschland zu lassen und an die Pegida-Demonstrationen in München, deren Teilnehmer zehnmal mehr Gegendemonstranten gegenüber gestanden hätten. Aber, so Nida-Rümelin: „Der Diskurs über die Thematik entgleist.“ Es könne keine einseitige Schuldzuweisung geben, auch die Gutmeinenden seien dafür verantwortlich. Er prangerte einen Kontrollverlust und Unprofessionalität der Politik an.
„Die Welt ist extrem ungerecht“
„Einer der großen Aspekte der Menschheit ist die Migration“, sagte Nida-Rümelin. Seine Erklärung dafür: „Die Welt ist extrem ungerecht“, was teils zu vermeiden sei. Wir könnten die Menschen, denen nicht mal das Nötigste zur Verfügung stünde, teilhaben lassen an unserem Reichtum. Das sei „sehr sympathisch“, sei aber problembehaftet. „Es steht im Gegensatz zur Empirie.“
Die Grenzen zu öffnen funktioniere laut Nida-Rümelin in der Regel nicht bei einer Ungleichheitsmigration, und „die wird uns in den kommenden Jahren am meisten beschäftigen“. 720 Millionen Menschen weltweit seien chronisch unterversorgt, „sie bekommen zu wenig Kalorien“. Die Kindersterblichkeit sei zu 80 Prozent darauf zurückzuführen. Die Zunahme der Armut in Deutschland sei eine relative Armut, absolut Arme, die von 1,25 US-Dollar pro Tag leben müssten, gebe es hier nicht. Nur 0,5 Prozent der Weltwirtschaftskraft würde ausreichen, mehr als zwei Dollar Kaufkraft zu gewährleisten. Aber: „Die Öffnung der Grenzen ist kein vernünftiges Mittel, das Elend in der Welt zu beseitigen“, so Nida-Rümelin. Für diese Einschätzung lieferte er Argumente.
„Deutschland kann sich Integration leisten“
Wer nur so wenig Geld zur Verfügung habe, „macht sich nicht auf nach Lampedusa“. Ein Kollege habe verkündet, dass lediglich 0,5 Prozent des Weltsozialprodukts zur Armutsbekämpfung ausreiche. „Und das ist nicht möglich“, sagte Nida-Rümelin. Immigranten würden erwarten, dass sie in den Arbeitsmarkt integriert würden und im Vergleich zu den Verhältnissen in der Heimat reich zurückkehrten. In Italien beispielsweise funktioniere das nicht, aber „Deutschland kann sich Integration leisten“.
Nida-Rümelin verwies auf die Pflicht, Schutz zu gewähren. Dies allerdings mit Integration zu verknüpfen, sie falsch. Es sei notwendig, eine langfristige juridische und ethische Flüchtlingspolitik zu entwickeln, „und da stehen wir ganz am Anfang“.
Von Peter Krüger-Lenz
GT/ET