Ex-SS-Mann aus Nordstemmen entkommt Anklage
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© Quelle: Symbolbild/dpa
Celle. Die Generalstaatsanwaltschaft in Celle verzichtet darauf, einen 95-jährigen früheren SS-Mann aus Nordstemmen (Kreis Hildesheim) wegen seiner Beteiligung am Massaker von Villeneuve d’Ascq im Jahr 1944 anzuklagen. Das hat die Behörde dem Anwalt des Beschuldigten sowie dem Vertreter der französischen Nebenkläger mitgeteilt, wie beide auf Nachfrage bestätigten. Entscheidend für die Absage aus Celle sind europaweite Rechtsnormen sowie die Rechtsauffassung des französischen Justizministeriums zu dem Fall.
Der heute 95-Jährige war im Jahr 1949 von einem französischen Militärgericht in Lille in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Die Armee-Justiz sah es damals als erwiesen an, dass der Nordstemmer an dem Massaker in der Nacht vom 1. auf den 2. April 1944, bei dem Angehörige der SS-Panzerdivision „Hitlerjugend“ 86 Menschen im Alter von 15 bis 75 Jahren erschossen, beteiligt war. Da sich der Nordstemmer in Deutschland befand und nicht ausgeliefert wurde, wurde das Urteil nie vollstreckt.
Und doch schützt es ihn heute vor erneuter Strafverfolgung. Das Justizministerium in Paris hat in seinem Schreiben an die Celler Staatsanwälte zwei Aspekte hervorgehoben: Zum einen sei der Nordstemmer in Frankreich bereits wegen des Massakers verurteilt worden. Nach dem Schengen-Abkommen darf niemand in einem anderen EU-Staat für etwas angeklagt werden, wofür er in einem anderen bereits verurteilt wurde – erst recht nicht, wenn das Urteil aus dem anderen Staat dort nicht mehr vollstreckt werden kann. Das ist hier der Fall: Die Franzosen stufen das Massaker als Kriegsverbrechen ein – was in Frankreich nach 20 Jahren verjährt.
Wäre es hingegen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit beurteilt worden, gäbe es noch eine Handhabe gegen den Nordstemmer – denn dieses Delikt verjährt in Frankreich nie.
Die Celler Generalstaatsanwaltschaft wiederum wollte den 95-Jährigen wegen Beihilfe zum Mord anklagen, die ebenfalls nicht verjährt. „Die Staaten des Schengen-Abkommens respektieren gegenseitig ihre Rechtspositionen. Deshalb hatte sich abgezeichnet, dass es keine Anklage geben würde“, sagte der Anwalt des Nordstemmers – der ebenso wie sein Mandant namentlich nicht genannt werden möchte – gestern auf HAZ-Anfrage. Dazu, wie der 95-Jährige die Nachricht aufgenommen habe, wollte er sich nicht äußern.
Enttäuscht reagierte dagegen Alexandre Delezenne. Der Anwalt aus Dunkerque ist der Urenkel des ältesten Massaker-Opfers und hatte mit einem Hinweis auf mehrere noch lebende Mitglieder der SS-Panzerdivision die Ermittlungen ausgelöst: „Wenn die SS Widerstandskämpfer erschossen hätte, könnte man das als Kriegsverbrechen sehen“, meint Delezenne. „Aber Kinder und alte Menschen aus ihren Häusern zu holen und umzubringen, ist für mich ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ Er habe die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass sich die Celler Ankläger noch anders entscheiden.
Selbst kann er dazu allerdings nichts beitragen. Als Urenkel kann Delezenne im Fall einer Anklage nicht Nebenkläger werden, dies ist den Kindern der Opfer vorbehalten. Zwölf von ihnen lassen sich von dem Kölner Juristen Dr. Andrej Umansky vertreten. Dieser will zwar Möglichkeiten, gegen die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft anzugehen, „prüfen“. Allerdings hegt er große Zweifel: „Angesichts der Stellungnahme aus Frankreich blieb der Behörde wohl keine Wahl.“
Verfahrensbeteiligte können noch einmal Stellung zu der Celler Entscheidung beziehen. Dass es doch noch zu Anklage und Prozess kommt, ist aber so gut wie ausgeschlossen. Damit war das Verfahren gegen den „Buchhalter von Auschwitz“ Oskar Gröning, der kürzlich verstarb, wohl der letzte Prozess zu NS-Verbrechen in Niedersachsen.
Von Tarek Abu Ajamieh