Mädchenmörder darf JVA Celle mit Fesseln verlassen
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Tatort: Am Ende dieser Sackgasse im friesländischen Varel fiel Kim Kerkow im Januar 1997 dem Kindermörder Rolf Diesterweg in die Hände. Heute erinnert ein Gedenkstein an das getötete Mädchen.
© Quelle: Rainer Dröse
Varel/Celle. Kim Kerkow war am 9. Januar 1997 in der Abenddämmerung mit ihrem Rad auf dem Heimweg von einer Freundin. Ihren Mörder, den vorbestraften Vergewaltiger Rolf Diesterweg, zur Tatzeit 34 Jahre alt, sah die Zehnjährige am Ende der Torhegenhausstraße im friesischen Varel vermutlich nicht. Diesterweg verschleppte die Schülerin, missbrauchte und erdrosselte sie. Nach der Tat zündete er eine Kerze an, betete und hörte Musik. Die Leiche warf er in ein Waldstück nahe Amsterdam.
Der Mord an Kim löste eine bis dahin nicht vergleichbare bundesweite Anteilnahme aus. Kaum ein anderes Sexualdelikt verursachte eine so erregte Diskussion um eine Verschärfung des Sexualstrafrechtes. Politiker setzten sich für höhere Freiheitsstrafen und eine wirkungsvollere Therapie der Täter ein. Der damalige CDU-Oppositionsführer und spätere Minister- und Bundespräsident Christian Wulff fand deutliche Worte für die Strafvollzugsphilosophie der Landesregierung. Diese stehe unter dem Motto: „Täter verwöhnen, Opfer verhöhnen“.
Ausflug in die Freiheit mit Fußfesseln
Im Dezember 1997 verurteilte das Landgericht Oldenburg Diesterweg zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Der Vorsitzende Richter Rolf Otterbein nannte ihn einen „gewissen- und skrupellosen Straftäter“. Dennoch stellte er nicht die besondere Schwere der Schuld fest und ordnete auch keine anschließende Sicherungsverwahrung an. Seine Haftstrafe sitzt Kims Mörder in der JVA Celle ab, genau wie Kindermörder Ronny Rieken (54), der seit 24 Jahren in dem Hochsicherheitsgefängnis einsitzt.
Rolf Diesterweg bekommt nun ein kleines Stück Freiheit zurück. Der Mädchenmörder darf das Gefängnis zeitweise verlassen. „Solche Ausführungen erfolgen unter Aufsicht von mindestens zwei Vollzugsbediensteten mit entsprechenden Sicherungsmaßnahmen, etwa mit Fesselung“, beschreibt JVA-Sprecherin Linda Holexa. Keine Rolle spielt dabei, dass Diesterweg ein verurteilter Kindermörder sei und sein Urteil lebenslänglich lautet. Ausführungen stehen laut Rechtsordnung nicht nur Gefangenen mit konkreten Entlassungsperspektiven zu, sondern auch lebenslang Verurteilten. „Den Inhaftierten soll damit ermöglicht werden, den Bezug zur Außenwelt zu behalten und durch gelegentliche Alltagserlebnisse außerhalb der JVA den Auswirkungen der langen Haftzeit entgegenzuwirken“, erklärt die Sprecherin.
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Mit Friedenstaube und einem Engel: Die ermordete Kim wurde auf dem Vareler Friedhof beigesetzt. Oft besuchen ihre Eltern das Grab.
© Quelle: Rainer Dröse
Für Kims Mutter ist das eine unerträgliche Vorstellung. „Wer ein Kind umgebracht hat, der darf doch nie wieder rauskommen“, findet Maike Geißler in einem kurzen Telefongespräch. Ihre Worte klingen fast bittend. Ein weiteres Telefonat wird folgen, dieses Mal wird Kims Stiefvater Klaus Geißler den Hörer abnehmen und erzählen. Tränen fließen nicht, aber es ist deutlich zu spüren, wie präsent der 9. Januar 1997 fast 26 Jahre später im Leben der Familie nach wie vor ist. Die Angst, die Sorge, die verzweifelte Hoffnung, die Gewissheit. Kim ist tot, missbraucht und ermordet. Und danach nur noch Leere, Trauer, Verzweiflung. „Ein Kind darf einfach nicht vor seinen Eltern sterben. Dieser große Verlust wird auch nach so langer Zeit nicht besser. Das wird nie besser werden“, glaubt Klaus Geißler. Besonders schlimm sei jedes Jahr die Zeit von November bis Januar. Kims Geburtstag am 19. November, Weihnachten, der Tod ihres Bruders, der vor 14 Jahren überraschend mit nur 30 Jahren starb, Kims Todestag.
Stiefvater warnt: „Freilassung mit allen Mitteln verhindern“
Ihre Eltern sind keine Menschen, die nach der Todesstrafe rufen. Ihnen ist das Rechtssystem vertraut, in dem die Resozialisierung von Gefangenen ein zentrales Element im Strafvollzug ist. Trotzdem hadern sie damit. „Dass Herr Diesterweg die JVA Celle nun zeitweise verlassen darf, finden wir nicht gut. Weil wir gar nicht abschätzen können, was daraus am Ende entsteht. Sind diese Ausflüge in die Freiheit nur eine Vorbereitung auf seine Entlassung?“, fragt sich der Stiefvater. Davor haben die Eltern „größte Sorge“. Klaus Geißler appelliert an die Justiz: „Freigänge sind eine Sache, aber die Freilassung des Mörders unserer Tochter muss mit allen Mitteln verhindert werden.“
Linda Holexa von der JVA Celle stellt klar, dass es sich nicht um Freigänge, also die weitestgehende Lockerung des Vollzugs, handele. Diese stünden nur Gefangenen zu, die in einer Einrichtung des offenen Vollzugs oder einer Freigängerabteilung untergebracht seien. „Im Falle von Herrn Diesterweg handelt es sich um Ausführungen, die geringste Stufe von Vollzugslockerungen. Diese müssen nicht mit einer Ausweitung der Lockerungen verbunden sein“, führt die Sprecherin aus.
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Kim Kerkow wurde nur zehn Jahre alt: Mit diesem Foto suchte die Polizei im Januar 1997 nach dem verschwundenen Kind.
© Quelle: Polizei
Was heißt das konkret und wie sehen diese Ausflüge außerhalb der Gefängnismauern aus? Dazu teilt die JVA Celle mit: „Ausführungen dauern zwischen vier und acht Stunden und werden in der Regel zwei- bis viermal im Jahr durchgeführt.“ Der zeitliche Rahmen hänge dabei von der inhaltlichen Ausgestaltung ab. „Die Stabilisierung von vorhandenen, förderungswürdigen sozialen Kontakten durch persönliche Begegnungen kann dabei ebenso im Fokus stehen wie das Erleben von Alltagssituationen oder eine sinnvolle Freizeitgestaltung“, erklärt Holexa. Besuche in Museen und Ausstellungen sind denkbar.
Der ehemalige Bundeswehroffizier Harald Menge lebt unweit der Torhegenhausstraße in Varel. Dort, wo Kim Kerkow am 9. Januar 1997 ihrem Mörder in die Arme fuhr. Am Ende der Sackgasse, direkt neben der Auffahrt zur A 29, erinnert knapp 26 Jahre später nur ein grauer Findling an den Ort, an dem das Mädchen entführt wurde und nur ihr Rad und ein Handschuh zurückblieben. „Erinnerung. Mahnung. Anklage.“ ist in den Stein gemeißelt. Nach dem Mord gründete Menge die „Initiative Kim“, die mittlerweile nur noch auf dem Papier existiert, war später Bundesvorsitzender des „Forums gegen Gewalt“, ein Dachverband aus sieben Vereinen, die wie die Vareler Initiative nach ähnlichen Mordfällen entstanden waren. Menge veranstaltete Demonstrationen, kämpfte mit seinen Mitstreitern für mehr Opferschutz und die Verschärfung des Strafmaßes für Sexualtäter. Und er stellte den Gedenkstein auf.
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Harald Menge gründete nach Kims Tod eine Bürgerinitiative, forderte mehr Opferschutz und härtere Strafen: Auch den Gedenkstein am Tatort stellte der Ex-Bundeswehroffizier auf.
© Quelle: Rainer Dröse
Was denkt er über Diesterwegs Ausflüge in die Freiheit? „Es gelten die Gesetze und da gehören Ausführungen zwangsläufig dazu. Gesetze werden von Politikern gemacht. Aber die sollten sich umfassender um diese Problematik kümmern, dann müsste sich einiges ändern“, findet der ehemalige Offizier. Dass das Gericht damals nicht die besondere Schwere der Schuld festgestellt hat, hat ihn verbittert und enttäuscht. Ein Urteil, ob von Rolf Diesterweg inzwischen keine Gefahr mehr ausgeht, traut er sich nicht zu. „Wer kann das am Ende schon wirklich beurteilen? Vermutlich niemand.“
Wann kommt der Kindermörder wieder frei?
Schon mehrmals hat Kims Mörder einen Antrag auf Haftverschonung gestellt. Bisher wurde das stets abgelehnt. Doch wie lange noch? Die JVA Celle lässt Fragen nach Diesterwegs Gefährdungspotenzial mit Verweis auf „Datenschutz und Persönlichkeitsrechte“ unbeantwortet. Sprecherin Holexa teilt allerdings mit: „Bei Herrn Diesterweg liegt aktuell keine Entlassungsperspektive vor.“