Ein elektrisches Stadtauto zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit
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5,51 voller Loungeluxus: der Audi urbansphere concept.
© Quelle: Audi
Audi-Chefdesigner Marc Lichte ist ein Mann mit Visionen und immer auf der Suche nach der perfekten Linie. Der Schritt in die Elektromobilität hat da viele Fesseln gelöst. Endlich haben die Designer jenen Freiraum, der ihnen eigentlich schon immer zugestanden hätte, wenn da nicht die Ingenieure mit ihren alten Verbrennungsmotoren und dem ganzen dazugehörigen technischen Gerät gewesen wären, das untergebracht werden musste. Lichte und sein Team wissen die neue Freiheit zu nutzen. Ihr jüngstes Projekt ist der Audi urbansphere concept, ein Stadtauto, bei dem sich Wahnsinn und Wirklichkeit in einer neuen Dimension kreuzen.
Ein Stadtauto sollte dort entwickelt werden, wo die Städte am größten, die Menschen am zahlreichsten und der Verkehr am schlimmsten ist. Also in China. Ein kleines, flinkes Vehikel, das seine Insassen sicher durch den Verkehr bugsiert, sei das Gebot der Stunde, sollte man meinen – und liegt damit komplett falsch. Audi hat sich für ein „revolutionäres Konzept“ entschieden, dafür Chinesen nach ihren sehnlichsten Wünschen in Sachen Mobilität befragt und die ganze Geschichte dann „mit einem ganz neuen Ansatz von innen nach außen entwickelt“, wie es Audi-Sprecher Josef Schlossmacher auf den Punkt bringt. Herausgekommen ist ein wahrhaft gigantisches Automobil – mit 5,51 Metern Länge und einen Radstand von mehr als 3,40 Metern der größte Audi aller Zeiten, konzipiert für den innerstädtischen Verkehr. Denn sein Hauptbiotop sind nach Auskunft der Marketingspezialistin Silke Guse „die Megacitys“.
Damit der Chinese nichts von dem ganzen Chaos um ihn herum mitbekommt, entstand im Innenraum so etwas wie ein Luxuskokon für vier Personen, wobei auch eine dritte Sitzreihe möglich ist. Nun standen die Designer vor der Frage aller Fragen, und die lautet: Was wollen die Menschen eigentlich in einem solchen Auto machen? Die Chinesen sagten, was sie wollten: chillen, Videos gucken, arbeiten – also: Lounge, Kino, Büro. Und genauso wurde das Audi urbansphere concept ausgelegt, ein rollender Lebensraum mit Wasserspender und Minibar in der Mittelkonsole, der idealerweise autonom unterwegs ist, weshalb man sich hauptsächlich auf den Platz hinter der ersten Reihe konzentriert hat. Feine Materialien, Highendausstattung, Digitalisierung in Perfektion, darunter geht es nicht. „Wir wollen eine First-Class-Atmosphäre schaffen“, sagt Interieurdesigner Christian Becker.
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Willkommen in der ersten Klasse: Blick in den Innenraum des Audi urbansphere concept.
© Quelle: Audi
Beim Be- und Entsteigen wird ein roter Lichterteppich ausgerollt
Weil Audi eine Designmarke und ihr Chefdesigner davon überzeugt ist, dass ein großer Teil des Erfolges auf seine Arbeit zurückzuführen ist, muss das riesige Stadtauto in eine ansprechende Form gegossen werden. Herausgekommen ist im Grunde genommen ein Van, der dank seiner Coupéanteile tatsächlich eine gewisse Dynamik verströmt, was auch an den 24-Zoll-Rädern liegt, denn große Felgen mit Niederquerschnittreifen machen sich immer gut. Damit sich die Insassen beim Be- und Entsteigen des Riesenautos entsprechend in Szene setzen können, rollt Audi vor den gegenläufig öffnenden Türen – auf eine B-Säule wird verzichtet – einen roten Lichterteppich aus. Dagegen wirkt der Stern, den Mercedes beim EQS auf den Boden wirft, geradezu armselig.
So ganz ohne altbewährte Technik geht es dann aber doch nicht, denn der urbansphere concept muss ja auch irgendwie um die Ecken kommen. Dafür ist die Hinterradlenkung zuständig, die selbst Großformate im Handling zum Kleinwagen schrumpfen lässt. Dazu kommen eine Bandscheibenschonende Luftfederung und jeweils ein Elektromotor an Vorder- und Hinterachse. Und da es sich noch immer um ein Stadtauto handelt, soll die Batterie gewichtsparend klein ausfallen, „eben für kurze Strecken“, sagt Marketingfrau Silke Guse, wobei sie dann in der offiziellen Pressemitteilung auf mächtige 120 kWh angewachsen ist. Nicht gespart wird bei der Leistung: 295 kW, also 402 PS, und ein Drehmoment von 690 Newtonmetern reichen aus, um alles, was sich dem Audi urbansphere concept in den Weg stellt, ganz lässig zur Seite zu räumen.
Eine Markteinführung ist derzeit kein Thema
Möglicherweise ist es Audi angesichts der Melodramatik, die dieses Conceptcar verströmt, selbst etwas schwummerig geworden. Auf die Frage, wann denn mit der Markteinführung zu rechnen sei, gibt es eine klare Antwort: Eine Markteinführung sei derzeit kein Thema, darüber habe man noch nicht nachgedacht.
Wie auch immer, eines zeigt die Marke mit den vier Ringen: Die automobile Musik spielt in China, und das nicht nur, weil Audi bereits seit mehr als 30 Jahren in China erfolgreich unterwegs ist. Dort verdienen inzwischen auch die anderen deutschen Hersteller ihr Geld. Außer ihren Produktionsstätten und Joint Ventures unterhalten sie im Land der Mitte längst auch Design- und Entwicklungsbüros. Womit sich dann irgendwann die Frage stellt, ob aus Deutschland, dem Land der Entwickler, eines Tages ein Entwicklungsland wird.