„Eine Mutter, die ihr Kind nicht stillt, ist keine schlechte Mutter“
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Stillen oder Flasche geben? Das muss sich laut Ernährungswissenschaftlerin Mathilde Kersting nicht ausschließen. Dass Eltern mit der Flasche zufüttern, scheint die Stillquote nicht negativ zu beeinträchtigen.
© Quelle: picture alliance/dpa
Frau Kersting, die nationale Stillkommission empfiehlt, dass Säuglinge mindestens bis zum Beginn des 5. Lebensmonates ausschließlich gestillt werden sollten. Babyanfangsnahrung hat dagegen in Deutschland ein schlechtes Image, oder?
Je nachdem, wen Sie fragen, werden Sie da sehr unterschiedliche Antworten bekommen. Muttermilch hat natürlich den höchsten Stellenwert. Das ist unumstritten oder sollte es zumindest sein. Es gibt – mit ganz wenigen, in der Regel medizinischen Gründen – keine guten Argumente gegen das Stillen. Das ist für uns Ernährungsforscher und Ernährungsmediziner völlig klar.
Aber für die Kinder, die nicht gestillt werden, müssen qualitativ hochwertige Alternativen bereitstehen. Die heutigen Produkte sind so gut, wie sie noch nie waren – und werden noch laufend verbessert. Dafür sorgen auch strenge europäische Regelungen mit genauen Vorgaben zu Nährstoffen, zum Pestizidgehalt bis hin zur Vermarktung. Man kann mit diesen Produkten seine Kinder sicher ernähren.
Aber so gut wie Menschenmilch sind sie nicht?
Nein, die fertige Flaschenmilch kann niemals die Vielfalt und Ausgewogenheit der Zusammensetzung von Muttermilch erreichen. Babymilchpulver ist standardisiert – Muttermilch ist quasi wie eine Maßanfertigung auf das einzelne Baby zugeschnitten. Das ist der Goldstandard für Säuglinge. Es ist nicht möglich, das mit Produkten gleichwertig nachzumachen.
Sie haben von 2017 bis 2019 eine bundesweite Stillstudie durchgeführt. Nach derselben Methode haben Sie bereits vor 20 Jahren Eltern zum Stillverhalten befragt. Was hat sich in dem Zeitraum getan?
Innerhalb dieser 20 Jahre sind die Stillquoten deutlich angestiegen. Das ist sehr erfreulich. Etwa die Hälfte der Mütter stillt mit vier Monaten ihr Kind ausschließlich – gibt also keine andere Nahrung dazu. Die größte Überraschung war für mich, dass heutzutage deutlich mehr Mütter ihr Baby auch noch im zweiten Lebenshalbjahr stillen als vor 20 Jahren. Am ersten Geburtstag des Babys stillen noch etwa 40 Prozent der Mütter – die Babys bekommen aber natürlich noch andere Lebensmittel dazu. In Deutschland wird die Einführung von Beikost, also fester Nahrung, zwischen dem fünften und dem siebten Monat empfohlen. Das spiegelt sich dann natürlich auch in den Stilldaten wider.
Warum gibt es diese Empfehlung?
Das hat vor allem mit der motorischen Entwicklung zu tun. Am Anfang können Babys nur saugen und schlucken. Etwa mit dem vierten bis fünften Monat gehen diese Reflexe nach und nach zurück. Die Kinder können dann andere Lebensmittel aufnehmen, und Fertigkeiten für andere Konsistenzen schreiten voran. In der ganzen Welt ist man sich einig, dass Kinder spätestens nach sechs Monaten mehr brauchen als nur Muttermilch und für das Wachstum der Kinder mehr Nährstoffe nötig sind.
Wie schneidet Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern beim Stillen ab?
Deutschland gehört in Europa zu den Ländern mit relativ hohen Stillquoten. Führend sind die Schweiz und Skandinavien, aber Deutschland kann da gut mithalten. Bisher war es immer so, dass in den USA weniger gestillt wurde als in Deutschland.
Mütter, die bewusst nicht stillen, müssen sich oft rechtfertigen.
Hat die Frage, ob Eltern ihren Kindern Flaschenmilch geben oder sie stillen, stärker mit Bildung oder mit Wohlstand zu tun?
Stillen hat in einigen ärmeren Ländern ein Imageproblem. Dort gilt es als Zeichen von Wohlstand, wenn man sich Milchersatzprodukte und dafür sauberes Trinkwasser leisten kann. Deutschland ist ein Beispiel für die reicheren Länder. Dort zeigen Studien fast einstimmig, dass das Stillen von der Ausbildung der Mutter abhängt. Eine höhere Bildung der Mutter ist ein positiver Faktor für das Stillen. Ein niedriger sozialer Status ist eher ein Risikofaktor für kurzes oder kein Stillen. Das ist schon seit vielen Jahren so, und das haben unter anderem auch unsere großen Stillstudien gezeigt. In Deutschland ist es kein Statussymbol, wenn man sich Flaschennahrung leisten kann. Da ist es eher ein Statussymbol, dass man das Kind stillt.
Werden Eltern, die ihre Kinder nicht stillen, stigmatisiert?
Das ist eine sehr gute Frage. Zum Teil wahrscheinlich schon. Mütter, die bewusst nicht stillen, müssen sich oft rechtfertigen. Dabei sollte das jede Mutter für sich frei entscheiden können. Eine Mutter, die ihr Kind nicht stillt, ist keine schlechte Mutter. Sie kann ein genauso gutes Mutter-Kind-Verhältnis aufbauen wie eine stillende Mutter. Säuglingsanfangsnahrung erlaubt eine sichere Ernährung. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass es gut für die Stillquoten wäre, wenn man das ein bisschen lockerer sehen würde und ein unterschwelliges Drängen zum Stillen etwas abstellen könnte.
Wie meinen Sie das?
Stillen hat sehr viel mit Psychologie zu tun. Wenn es gleich am Anfang Schwierigkeiten gibt, ich aber unbedingt stillen möchte, kann das zu Reaktionen führen, die dem Stillen nicht zuträglich sind. Mütter sind gestresst und werden unruhig oder haben Angst, dass ihr Kind zu wenig Milch bekommen könnte.
Wenn sie das Gefühl haben, dass gute Ersatznahrung da ist, beruhigt das möglicherweise Mutter und Kind. Wir haben auch in unseren Studien gesehen: Es ist für die Stillquoten nicht unbedingt nachteilig, wenn Kinder per Flasche zugefüttert werden. Der Anteil von Müttern, die das tun, war 2019 größer als vor 20 Jahren – und trotzdem sind die Stillquoten in diesem Zeitraum gestiegen. Diese Befunde fand ich sehr interessant.
Die Ernährungswissenschaftlerin Mathilde Kersting forscht zum Stillverhalten in Deutschland und war über viele Jahre Mitglied der Nationalen Stillkommission.
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