Delta-Variante: fünf Gründe, warum nun „allerhöchste Wachsamkeit“ nötig ist
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Wie viel Vorsicht braucht es, wenn die Deltavariante noch nicht dominant ist in Deutschland?
© Quelle: Kira Hofmann/dpa-Zentralbild/dpa
Die Worte des Vorsitzenden der Gesundheitsministerkonferenz sind ein Dämpfer. Gerade erst ist die Fußball-EM mit erstmals wieder für Fans geöffneten Stadien angelaufen, die Kneipen und Restaurants sind wieder gut besucht, erste Reisen für den Sommerurlaub gebucht. Die Stimmung wird ausgelassener. Aber Klaus Holetschek (CDU), auch bayerischer Gesundheitsminister, sagt gegenüber der „Rheinischen Post“: „Wir brauchen weiterhin allerhöchste Wachsamkeit. Vorsicht und Umsicht müssen weiter das Handeln bestimmen.“
Allein ist er mit seiner Meinung nicht. Ähnliche Einschätzungen kommen aus dem Kanzleramt, von Vertreterinnen und Vertretern des Robert Koch-Instituts, aus Virologie und Ärzteschaft. Aber wieso eigentlich? Die Inzidenz befindet sich hierzulande immerhin auf so niedrigem Niveau wie seit September 2020 nicht mehr. Und die besorgniserregende Virusvariante Delta ist in Deutschland noch wenig verbreitet. Ihr Anteil lag laut jüngstem Bericht des Robert Koch-Instituts bei 6,2 Prozent in der Kalenderwoche 22 (31. Mai bis 6. Juni).
Fünf Gründe, wieso die Delta-Variante trotzdem Sorgenfalten auslösen kann, und was deshalb dafür spricht, Maßnahmen wie Maske tragen, Abstand halten, regelmäßige Tests und Vorsicht bei Reisen vorerst beizubehalten:
1) Übertragbarkeit: Delta-Variante macht Ansteckungen wahrscheinlicher
Einig sind sich Expertinnen und Experten aus Epidemiologie und Virologie, dass die Delta-Variante deutlich übertragbarer ist als noch Alpha – was vor allem noch nicht Geimpfte treffen könnte. Schätzungen gehen davon aus, dass diese Mutante zwischen 40 und 60 Prozent ansteckender ist – möglicherweise auch noch mehr. Wieso das so ist, weiß man noch nicht, es könnte aber einen Zusammenhang mit einer höheren Viruslast geben. Sprich: Treffen viele ungeimpfte Menschen aufeinander, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass sie sich anstecken.
Und so wundert es auch nicht, dass Corona-Expertinnen und -Experten davon ausgeht, dass der Anteil von Delta in den kommenden Wochen – wie Anfang des Jahres auch bei Alpha geschehen – weiter ansteigen wird. Genau das passiert gerade in Großbritannien, wo Delta Alpha in nur wenigen Wochen verdrängt hat und inzwischen in mehr als 90 Prozent der Proben nachgewiesen wird. Die Folge: Trotz hoher Impfquote schnellt die Zahl der Neuinfektionen deutlich in die Höhe.
2) Reisen: Das Virus reist gerne mit
Die Mobilität steigt mit den Lockerungen. Das ist bei niedriger Inzidenz sowie Abstand, Maske und Testen in der Öffentlichkeit für den Einzelnen auch keine allzu große Gefahr. Wo aber viele noch nicht geimpft und damit geschützt sind, etwa bei großen Menschenansammlungen, bei Konzerten, auf Flughäfen und in Bahnhöfen oder während der Fußball-EM, wird ansteckenderen Virusvarianten eine besonders gute Gelegenheit zu Übertragungen und Superspreading-Events gegeben.
Der Erreger werde seine Chance nutzen – gerade wenn man Varianten hat, die übertragbarer oder leichter übertragbar sind als das Ursprungsvirus, glaubt die Virologin Sandra Ciesek. „Ich vermute, dass wir dann auch wieder mehr diese Ausbrüche sehen werden, wie wir das letztes Jahr in Deutschland hatten, aber auch jetzt zum Beispiel in Vietnam beobachten können“, erläuterte die Wissenschaftlerin Ende Mai im NDR Info-Podcast „Coronavirus-Update“.
Deswegen rät Helge Braun, Chef des Kanzleramts, den deutschen Fußballfans auch von einer Reise zu den entscheidenden EM-Spielen ab. „Meine große Sorge ist die sich ausbreitende Delta-Variante in Großbritannien – und London ist ein Austragungsort. Man sollte nicht in Virusvariantengebiete reisen“, sagte der CDU-Politiker dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). In der englischen Hauptstadt finden die beiden Halbfinals und das Endspiel der Fußball-Europameisterschaft statt.
3) Impfstoffe: Der Impfschutz ist in Gefahr
Die gute Nachricht: Die Impfung schützt auch bei der Delta-Variante vor einem schweren Covid-19-Verlauf mit Klinikeinweisung. Laut einer neueren britischen Datenanalyse werden bei dem Vakzin von Biontech/Pfizer zu 96 Prozent, bei Astrazeneca zu 92 Prozent schwere Erkrankungen verhindert – vorausgesetzt, der Impfschutz ist vollständig.
Allerdings können Geimpfte bei der Delta-Variante wohl etwas leichter als noch bei Alpha infiziert werden. Das Biontech-Vakzin schützt dann noch zu 79 Prozent, bei Astrazeneca zu 60 Prozent. Setzt sich die Delta-Variante hierzulande durch, bedeutet das also: Geimpfte können trotz Impfung wahrscheinlicher milde Symptome entwickeln – und auch eine größere Ansteckungsgefahr für Nichtgeimpfte darstellen.
4) Der Herbst kommt – und der saisonale Effekt schwindet
Wenn viele Menschen über den Sommer gleichzeitig unvorsichtiger werden und sich die Delta-Variante zudem durchsetzt, könnten sich im Herbst laut Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wieder mehr Infektionen ereignen. Denn dann hilft der saisonale Effekt – durch höhere Temperaturen und Treffen an der frischen Luft – nicht mehr bei der Eindämmung des Virus. Eine vierte Welle ist dann möglich.
Es würde wegen der Impfungen zwar sehr wahrscheinlich nicht mehr zu einer so hohen Sterblichkeit wie im vergangenen Winter kommen – steigende Infektionszahlen und viele Schwerkranke bleiben aber möglich. Zumal die Delta-Variante unter Verdacht steht, bei fehlendem Immunschutz schwerere Krankheitsverläufe als noch bei der Ursprungsvariante auszulösen.
5) Herdenimmunität: Das Pandemieende ist schwerer erreichbar
Durch die Ausbreitung der Delta-Variante ist eine „Herdenimmunität“ – also das Ende eines exponentiellen Fallwachstums auch ohne Maßnahmen – schwieriger bis möglicherweise gar nicht mehr zu erreichen. „Wir sind vor einem Jahr noch davon ausgegangen, dass der R-Wert unter eins fällt, wenn 70 Prozent der Bevölkerung geimpft oder genesen sind“, erklärte Anita Schöbel, Leiterin des Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik der Fraunhofer-Gesellschaft, die Ergebnisse aktueller Modellierungen gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Leider gilt das so nicht mehr.“
Setzt sich Delta durch, muss also auch der Anteil der immunisierten Bevölkerung höher ausfallen. Die Schätzungen gehen derzeit davon aus, dass es dann weit mehr als 80 Prozent Geimpfte und Genesene braucht. Gegenwärtig haben rund 30 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen vollständigen Impfschutz (Stand: 18. Juni).