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Interview mit Infektiologin: „Wir müssen aus Fehlern lernen, um das nächste Mal besser vorbereitet zu sein“

Allmählich kehrt der Alltag zurück, wie hier auf der Nordseeinsel Norderney. Doch müssen wir unsere Schlüsse aus der Pandemie ziehen, um das nächste Mal in vielen Bereichen besser vorbereitet zu sein, meint die Infektiologin Berit Lange.

Allmählich kehrt der Alltag zurück, wie hier auf der Nordseeinsel Norderney. Doch müssen wir unsere Schlüsse aus der Pandemie ziehen, um das nächste Mal in vielen Bereichen besser vorbereitet zu sein, meint die Infektiologin Berit Lange.

Obwohl die Corona-Pandemie noch nicht ausgestanden ist, beginnt allmählich die Aufarbeitung der vergangenen Monate. Was es besonders zu bedenken gilt und wie man sich auf eine eventuelle weitere Pandemie vorbereiten könnte, darüber spricht Berit Lange, Ärztin und Epidemiologin vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.

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Die Corona-Pandemie wird nicht die letzte gewesen sein. Es gibt sogar Experten, die schon vor noch mehr Pandemien in den nächsten Jahren warnen. Teilen Sie diese Meinung?

Berit Lange: Pandemien oder größere Epidemien gab es immer wieder und wird es auch immer wieder geben. Wie groß und dramatisch sie ausfallen werden, hängt von dem Erreger und unserer schnellen Reaktion darauf ab. Deshalb ist es wichtig, sich gut auf zukünftige Pandemien vorzubereiten. Ob aber wirklich die Pandemiehäufigkeit zunehmen wird, darüber lässt sich im Moment nur spekulieren.

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Kennt die Wissenschaft potenzielle Kandidaten für neue Pandemien?

Wir kennen tatsächlich eine Handvoll von Erregern, die das Potenzial haben, eine Pandemie auszulösen. Coronaviren wie Sars und Sars-CoV-2 gehören ohne Frage dazu, aber auch Influenzaerreger. Gleichzeitig können auch neue, noch unbekannte Erreger dazukommen. Gefährlich wird es immer dann, wenn die Erreger erst von Tieren auf Menschen übertragen und danach auch noch leicht weitergegeben werden können. Oft treffen die Viren dabei auf eine Bevölkerung mit wenig Immunität. Gleichzeitig löst nicht jeder Erreger, der aus dem Tierreich überspringt, gleich eine Pandemie aus. Sonst hätten wir vermutlich monatlich neue Krankheiten. Gerade am Anfang ist viel Zufall im Spiel, zum Beispiel, wenn es darum geht, wie übertragbar die Infektion wirklich ist oder wie gut sie sich eindämmen lässt. Manche verschwinden nach wenigen Fällen wieder, bei anderen wie Sars Anfang der 2000er ist eine frühe Eindämmung gelungen.

In der aktuellen Debatte wurde immer wieder darüber gesprochen, dass wir mit der Zerstörung von Lebensräumen oder dem illegalen Tierhandel eine große Mitschuld an der Entstehung der Pandemien tragen.

Das ist nicht ganz mein Fachgebiet. Aber es ist richtig, dass durch den Klimawandel und die Zerstörung von Lebensräumen für Tiere das Risiko für Pandemien steigt. Fallen Naturräume weg, wird mit wilden Tieren gehandelt oder werden sie stärker gejagt, gibt es mehr Berührungspunkte, und damit steigen die Chancen für eine Übertragung von Erregern aus dem Tierreich auf den Menschen. Insofern ist Engagement gegen den Klimawandel sicher ein wichtiger Bestandteil der Pandemieprävention.

Berit Lange ist Ärztin und Epidemiologin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig.

Berit Lange ist Ärztin und Epidemiologin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig.

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Was können wir aus der aktuellen Pandemie für kommende lernen?

Das ist eine große Frage mit vielen Antworten. Ich gebe einfach mal ein paar Beispiele aus meinem Bereich. Ich sehe großes Ausbaupotenzial in der Beratung der Politik durch die Wissenschaft – und zwar für beide Seiten. Es gab recht viele Beratungsgremien, mal kurzfristig zusammengerufen, mal langfristig begleitend. Ihnen fehlte es leider häufig an Transparenz und Koordination, auch gab es zu wenig Austausch und Verlässlichkeit. Doch genau das ist wichtig, um schnell reagieren zu können. Hier können wir sicher von anderen Ländern noch etwas lernen. In England wurde zum Beispiel ein großes interdisziplinäres Beratergremium geschaffen, das eben nicht nur gemeinsam Empfehlungen entwickelt, sondern auch in der Lage ist, Daten zum Beispiel zu neuen Virusvarianten auszuwerten und sie transparent mit der Öffentlichkeit zu teilen – auch wenn die gemachten Empfehlungen dann nicht immer umgesetzt wurden. In Deutschland wurden solche Diskussionen häufiger in Talkshows kommuniziert, als dass die entsprechenden Expertengremien ihre Abwägungen transparent für die Öffentlichkeit beschrieben hätten.

Welche neuen Infrastrukturen sollten wir für die nächste Pandemie schaffen?

Wir brauchen mehr langlebige und schnell zu aktivierende Infrastrukturen im Bereich der Forschung und dem Gesundheitssystem. Ein Beispiel, wie dies aktuell für die Zukunft geplant wird, ist im Bereich der Universitätsmedizin die Schaffung des Netzwerks Universitätsmedizin (NUM). Hier sollen unter anderem neue Erkenntnisse zu Infektionsausbreitung, Diagnosen und Behandlungsansätzen schneller zusammengeführt werden. Zum Beispiel beschäftigt man sich hier im Moment sehr koordiniert mit dem Thema des Aufbaus von großen Bevölkerungsstudien, die bei zukünftigen Epidemien schneller Antworten auf die Frage nach der tatsächlichen Infektionsausbreitung geben können. Dies ist auch wichtig, um die Ausbreitung von neuen Varianten im Blick zu behalten. Solche Institutionen erst in der Pandemie aufzubauen kostet im Zweifel wertvolle Zeit und damit im schlimmsten Fall Menschenleben. Deshalb sollten wir solche Infrastrukturen für kommende Pandemien vorhalten und sie in der Zwischenzeit auch für die Erforschung und Bekämpfung von saisonalen Infektionserkrankungen wie der Grippe verwenden. Gleiches gilt auch für das Gesundheitssystem und für den öffentlichen Gesundheitsdienst. Es kann nicht sein, dass wir immer am Rande des Kollapses fahren, gerade so, dass wir in der knapp bemessenen Personalstärke Patienten oder eine erfolgreiche Kontaktnachverfolgung gefährden. Hier wäre mehr vorausschauende Planung toll. Auf der anderen Seite dürfen Pandemiepläne nicht nur medizinisch gedacht werden.

Was meinen Sie damit genau?

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Es gibt Bereiche des öffentlichen Lebens, die bisher in Pandemieplänen wenig praktisch durchdacht waren und selbst zu wenig über solche Pläne wussten. Ein gutes Beispiel dafür sind die Schulen und Kindergärten. Hier hat es innerhalb der Pandemie sehr lange gedauert, bis tragfähige Hygienekonzepte entwickelt wurden, und es hat lange an klaren Reaktionsplänen gefehlt. Hier sollten – in allen zuständigen Behörden – bestehende Pandemiepläne dringend überarbeitet werden, nicht nur in Form von Hygienekonzepten und Teststrategien, sondern auch bei der Frage, wie man Lernen bei Schulausfällen organisiert.

Nun wird das Corona-Management der Bundesregierung viel kritisiert. Was hat aus Ihrer Sicht denn gut funktioniert?

Das Gesundheitssystem hat insgesamt sehr gut auf die Pandemie reagiert und gezeigt, dass sich schnell Strukturen aufbauen lassen. Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass wir genau das vor allem Medizinerinnen und Medizinern, Forschenden und Pflegekräften verdanken, die in den letzten anderthalb Jahren quasi nonstop gearbeitet haben. Auch die Reaktion der Politik und der Bevölkerung auf die erste Welle, also die strengen Kontaktbeschränkungen, war sicher gut. Anders als dann in der zweiten und dritten Welle hat die Politik verhältnismäßig schnell reagiert und damit Menschenleben gerettet. Gleichzeitig darf man auch die teilweise verlorenen Wochen im Januar und Februar 2020 nicht vergessen, in der die Pandemie vielleicht noch hätte eingedämmt werden können. Schauen wir auf die internationale Pandemiebekämpfung, kann man natürlich auch die schnelle Entwicklung der Impfstoffe als großen Erfolg werten. Hier habe ich allerdings auch ambivalente Gefühle.

Inwiefern?

Die schnelle Entwicklung der Impfstoffe ist ein immenser Erfolg und eine großartige Leistung, keine Frage. Gleichzeitig frage ich mich natürlich auch, warum uns ähnliche Erfolge nicht auch bei anderen Krankheiten gelingen. Es gibt viele Krankheiten, die vielleicht bei uns in Deutschland seltener geworden sind, aber an denen in anderen Ländern viele Millionen Menschen sterben: Tuberkulose, Hepatitis oder auch HIV. Für alles gibt es zwar Medikamente und manchmal auch Impfungen, aber die großen Innovationen und deren Ausrollen auch in ärmeren Ländern dauert hier meist deutlich länger – auch weil eben nicht die entsprechenden Ressourcen in diesem schnellen Ausmaß zur Verfügung stehen. Wir haben jetzt gesehen, was entstehen kann, wenn genügend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Wir sehen allerdings auch bei den Covid-Impfstoffen, wie die ärmeren Länder dann doch wieder zurückgelassen werden, selbst wenn solche Innovationen schnell entstehen.

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Wie groß ist die Gefahr, dass die Pandemie und ihre Ereignisse schnell wieder vergessen sind und doch keine richtigen Schlüsse daraus gezogen werden?

Ich glaube, Teile der Öffentlichkeit wollen nicht die nächsten drei Jahre weiter über die Pandemie sprechen, und das ist durchaus verständlich. Man will nach schweren Monaten wieder nach vorn schauen. In der Forschung, in der Politik und im Gesundheitssystem hat dagegen schon die Analyse begonnen und muss auch konsequent fortgesetzt werden. Wir müssen aus Fehlern lernen, unsere Schlüsse aus der Pandemie ziehen, um das nächste Mal in vielen Bereichen besser vorbereitet zu sein.

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