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Reichen vier Wochen Teil-Lockdown überhaupt? Das sagen die Virologen

Wegen des Teil-Lockdowns haben Restaurants, Cafés und Bars vier Wochen geschlossen.

Wegen des Teil-Lockdowns haben Restaurants, Cafés und Bars vier Wochen geschlossen.

Am Montag kommen Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Länder erneut zusammen, um eine erste Bilanz des Teil-Lockdowns zu ziehen. Die am 2. November in Kraft getretenen Einschränkungen sollten zunächst insgesamt vier Wochen gelten. Das Ziel: den exponentiellen Anstieg der Corona-Infektionszahlen drosseln.

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Doch reichen vier Wochen Teil-Lockdown aus, um das Infektionsgeschehen in Deutschland wieder beherrschbar zu machen? Die Fallzahlen zu senken und den Sieben-Tage-Inzidenzwert unter 50 zu drücken, werde einige Zeit in Anspruch nehme, sagte Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), am Donnerstag. „Wir müssen uns hier noch ein paar Monate die Pobacken zusammenkneifen.“

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Verhalten der Bürger entscheidend

Es sei noch zu früh, um die Wirkung des Teil-Lockdowns zu beurteilen, so der RKI-Chef. Da die Fallzahlen zurzeit sehr hoch sind, könne sich die Situation in den kommenden Wochen womöglich auch verschärfen. Entscheidend sei deshalb das Verhalten der Bürger.

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Drei Säulen in Kombination seien essentiell: Erstens, das Einhalten von Abstandsregeln, Tragen des Mund-Nasen-Schutzes, Hygieneregeln und Lüften. Zweitens, Kontakte so weit wie möglich begrenzen. Drittens, sich auch bei kleinsten Symptomen wie Halskratzen für mindestens fünf Tage in häusliche Isolation zu begeben. „Diese Maßnahmen werden uns noch lange begleiten – auch dann, wenn ein wirksamer Impfstoff zur Verfügung steht“, prognostizierte Wieler.

Die Situation in Deutschland sei nach wie vor angespannt, der Trend bei den Infektionszahlen noch nicht umgekehrt, meint auch Friedemann Weber. „Deshalb befürchte ich, dass bis Ende November die Lage noch nicht ausreichend im Griff ist, sodass man alle Maßnahmen aufheben kann“, sagt der Leiter des Instituts für Virologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.

Warum hat sich der Anstieg der Neuinfektionen verlangsamt?

Zwar habe sich die Zahl der Corona-Neuinfektionen seit rund einer Woche auf einem hohen Niveau stabilisiert und sei nicht mehr allzu schnell gestiegen. Aber noch sei unklar, ob diese Entwicklung allein auf den Teil-Lockdown oder nicht doch auf die zunehmende Belastung der Labore und Gesundheitsämter zurückzuführen ist, gibt Weber zu bedenken. In der vergangenen Woche verzeichnete das RKI mehr als 60.000 abzuarbeitende Proben in 66 deutschen Laboren. Am Freitag hatte das RKI zwar mit 23.542 einen neuen Höchststand gemeldet, dieser war aber nur geringfügig höher als der bisherige Spitzenwert vom vergangenen Samstag mit 23.399 verzeichneten Fällen.

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Die erschöpften Laborkapazitäten greift auch Christian Drosten in der aktuellen Folge seines Corona-Podcasts als Erklärung für den verlangsamten Anstieg der Corona-Neuinfektionen auf. „Es könnte sein, dass wir seit Mitte Oktober eine Entkopplung haben zwischen dem Infektionsgeschehen und dem Nachweisgeschehen“, sagt der Leiter des Instituts für Virologie an der Berliner Charité. „Das bedeutet, wir merken einfach nicht mehr, was in der Bevölkerung los ist.“

Streeck: „Wir reden viel zu wenig über Langzeitstrategien“

In einer kürzlich veröffentlichten Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie hatten sich Drosten sowie mehr als 40 Berufskollegen für den aktuellen Teil-Lockdown ausgesprochen: „Die jetzigen Beschränkungen können viele Menschenleben in Deutschland retten und einen weitergehenden Lockdown mit noch mehr Schäden für die öffentliche Gesundheit und die Wirtschaft verhindern, wenn sie konsequent umgesetzt werden.“ Wegen erheblicher Einschränkungen und negativen Folgen für die Wirtschaft könnten die Maßnahmen jedoch nur zeitlich begrenzt eingesetzt werden.

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Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie an der Universität Bonn, hatte am Dienstagabend in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz bekundet, dass der Teil-Lockdown angesichts zunehmend ausgelasteter Intensivstationen gut und richtig gewesen sei. „Was mir jetzt aber auch wieder fehlt, ist eigentlich etwas ganz anderes: Wir reden viel zu wenig über Langzeitstrategien, also wie man langfristig auch bis spät ins nächste Jahr und vielleicht auch übernächstes Jahr damit umgehen kann“, sagte der Virologe.

Streeck äußert sich zuerst kritisch zum Teil-Lockdown

Mit seinen lobenden Worten zum Teil-Lockdown vollzog Streeck eine regelrechte Kehrtwende. Ende Oktober hatte der Virologe zusammen mit seinem Kollegen Jonas Schmidt-Chanasit und dem Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, ein Positionspapier veröffentlicht, das die Maßnahmen von Bund und Ländern scharf kritisiert. „Wir setzen auf Gebote anstelle von Verboten, auf Eigenverantwortung anstelle von Bevormundung“, heißt es darin.

Einen weiteren Lockdown bezeichneten sie als „einen Überbietungswettbewerb im Erlassen von Maßnahmen“. Obwohl Streeck in der ZDF-Talkshow keine konkreten Langzeitstrategien benannte, deuten sie sich zumindest im KBV-Positionspapier an. So soll die Corona-Epidemie in Deutschland nicht mehr alleine durch die Nachverfolgung persönlicher Kontakte eingedämmt werden. Zudem fordern Streeck, Gassen und Schmidt-Chanasit, ein bundesweit einheitliches Ampelsystem für regionale Maßnahmen einzuführen und sich auf den Schutz von Risikogruppen zu konzentrieren.

Kontaktverfolgung ist wichtiges Instrument

Für Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation ist die Kontaktverfolgung hingegen ein wichtiges Instrument, um das Infektionsgeschehen zu kontrollieren – ebenso wie ein Lockdown. „Lockdowns sind notwendig, wenn andere Strategien zur Eindämmung der Epidemie versagt haben“, schreibt die Forscherin auf Twitter. „Es ist wichtig, dass die Regierung aus dieser zweiten Welle lernt und die Zeit eines Lockdowns nun gut nutzt.“

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Um zu verhindern, dass Deutschland in ein paar Monaten die gleiche Situation noch einmal erlebt, sei es wichtig, dass ausreichende Testkapazitäten vorhanden sind und die Kontaktverfolgung innerhalb weniger Tage erfolgt. Zudem müsse eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert und Schulen sicherer gemacht werden – zum Beispiel durch eine bessere Belüftung, kleinere Klassengrößen und Mund-Nasen-Schutz im Unterricht.

Virus könnte noch lange Zeit in der Gesellschaft zirkulieren

Der Virologe Marco Binder vom Deutschen Krebsforschungszentrum der Helmholtz-Gemeinschaft in Heidelberg appelliert im RND-Interview ferner an die Eigenverantwortung der Bürger. „Vier Wochen November-Lockdown werden nicht dazu führen, dass das Problem einfach verschwunden ist“, sagt er. „Ich denke nicht, dass wir ein ganz entspanntes Weihnachten feiern können. Dieser Winter wird eiserne Disziplin bei der Eindämmung erfordern. Und zwar von uns allen.“

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Nicht nur das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes sei deshalb von Bedeutung. Auch bei kleinsten Erkältungssymptomen wie Halskratzen, Husten oder leicht erhöhter Temperatur sollten die Menschen möglichst zu Hause zu bleiben. „Wir müssen uns also darauf einstellen, dass das Virus noch lange in der Bevölkerung zirkulieren wird, vermutlich sogar für immer, ähnlich wie die Influenza“, gibt Binder zu Bedenken.

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