Wann erreicht die Omikron-Welle ihren Höhepunkt – und was bedeutet das eigentlich?
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Mit Verzögerung zu anderen EU-Ländern erreichen auch in Deutschland die Corona-Fallzahlen bisher unbekannte Höhen.
© Quelle: imago images/aal.photo
Es sind bislang unbekannte Höhen. Ein Rekord folgt auf den nächsten, die offiziell gemeldeten Infektionszahlen in Deutschland steigen rasant. Am Mittwoch hat die Zahl der innerhalb eines Tages in Deutschland registrierten Corona-Neuinfektionen erneut einen Höchstwert erreicht – und ist erstmals sechsstellig. Das Robert Koch-Institut (RKI) meldete mehr als 100.000 übermittelte Infektionen. So viele waren es noch nie seit Beginn der Pandemie.
Dabei gibt es große regionale Unterschiede. Laut RKI-Situationsbericht liegen die Werte für die Sieben-Tage-Inzidenz in den Bundesländern zwischen 1295 in Bremen und 216 in Thüringen. Der Grund? Noch nicht überall sind Omikron-Hotspots. Die sehr ansteckende Variante verdrängt Delta zunehmend in Deutschland. In allen Bundesländern steigt die Ausbreitung zwar an, aber eben unterschiedlich schnell.
Mancherorts – wie in Bremen – macht die Variante schon 96 Prozent der Ansteckungen aus. Anderswo verbreitet sich die Variante noch auf geringerem Niveau – wie in Thüringen mit rund 39 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern mit 11 Prozent mit Datenstand Anfang Januar. Der Expertenrat der Bundesregierung geht in seiner Stellungnahme aber davon aus, dass Omikron „zeitnah flächendeckend dominant“ werde.
Immer höhere Corona-Fallzahlen?
Damit steigen in den kommenden Tagen und Wochen sehr wahrscheinlich auch die Fallzahlen weiter deutlich an. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach rechnet damit, dass die Omikron-Welle ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht hat. „Ich glaube, dass wir den Höhepunkt der Welle Mitte Februar erreichen werden, und dann könnten die Fallzahlen auch wieder sinken, aber wir sind noch nicht auf dem Höhepunkt angekommen“, sagte der SPD-Politiker am Dienstagabend in der Sendung „RTL Direkt“.
Exakt lässt sich allerdings nicht vorhersagen, wann genau die Welle ihren Höhepunkt erreicht. Viele Faktoren sind schwer zu kalkulieren. „Das hängt daran, welche Maßnahmen die Politik beschließt, wie sich die Bevölkerung verhält und wie die Impfungen vorankommen“, erklärte Anita Schöbel, Modelliererin und Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik, im Dezember dem RND. Auch Ende Februar oder später sei der Höhepunkt der Welle möglich, Hochrechnungen kämen da zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Klar ist nur: Noch sehr viele Menschen werden sich in den kommenden Wochen mit Corona anstecken – in Deutschland und ganz Europa. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte in der zweiten Januarwoche unter Berufung auf eine Hochrechnung des Forschungsinstituts IHME davor, dass sich in den kommenden sechs bis acht Wochen schon mehr als die Hälfte der Menschen in Europa mit Omikron infiziert haben könnte.
Wie schnell Omikron sich verbreitet, demonstriert auch das Beispiel Großbritannien. Dort hatte die Welle schon um Weihnachten herum Fahrt aufgenommen. Es wurden innerhalb weniger Wochen Inzidenzwert-Höchststände erreicht – teils mit mehr als 200.000 Neuansteckungen pro Tag. Seit der zweiten Januarwoche sinken die Inzidenzen genau so schnell wieder ab. Ähnliche Erfahrungen machen auch Südafrika und Dänemark.
Wie wirken sich die Corona-Ansteckungen aus?
Die große Frage ist, wie sich diese immense Zahl der Corona-Infektionen in Deutschland auf die Belegung der Kliniken und auf die kritische Infrastruktur auswirkt, zu der beispielsweise die Energie- und Wasserwirtschaft gehört. Denn Infektionen mit der Omikron-Variante führen, bezogen auf die Fallzahl, nach bisherigen Erkenntnissen seltener zu Krankenhausaufnahmen und schweren Krankheitsverläufen.
Aktuell spiegelt sich die Omikron-Welle noch nicht in der Zahl der Corona-Patienten auf Intensivstation wider. Diese ist laut Intensivmedizinervereinigung Divi seit der ersten Dezemberhälfte von rund 5000 auf zuletzt 2664 (Dienstag) gesunken. Auch die Zahl der offiziell vom RKI gemeldeten Corona-Toten war in den vergangenen Tagen rückläufig. Deutschlandweit wurden den neuen Angaben zufolge binnen 24 Stunden 239 Todesfälle mit oder aufgrund von Corona verzeichnet. Vor einer Woche waren es 384.
Momentan infizieren sich vergleichsweise wenig ältere Menschen, die besonders anfällig für schwere Verläufe sind. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag bei Menschen ab 80 Jahren laut RKI zuletzt bei rund 115 – mit leicht steigender Tendenz. Sollten sich aber deutlich mehr Ältere infizieren, könnte das Experten und Expertinnen zufolge zu einem deutlichen Anstieg bei der Zahl der Schwerkranken führen. „Wir rechnen schon bald mit vielen Omikron-Patienten, die einen höheren Aufwand in den Krankenhäusern erfordern“, sagte auch Susanne Johna, Vorsitzende des Ärzteverbands Marburger Bund, im RND-Interview. „Wir werden sehr schnell erhebliche Einschränkungen bei planbaren Eingriffen im Krankenhaus vornehmen müssen, weil das Personal zur Betreuung der Covid-Patienten auf Normalstationen gebraucht wird.“
Die Omikron-Welle könnte dem Modellierer Andreas Schuppert zufolge schon bald auch zu einer erheblichen Belastung der Normalstationen von Krankenhäusern führen. „Die Zahlen sind unsicher, aber man kann von einer mehr als zehnfachen Belegung im Vergleich zu Intensivstationen ausgehen“, sagte der Mathematiker und Physiker an der RWTH Aachen dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Das ist deutlich mehr als bei Delta.“ So sieht das auch der Expertenrat. Stecken sich sehr viele Menschen auf einmal an, sei mit einer „erheblichen Belastung und regional auch Überlastung der Krankenhäuser und der ambulanten Versorgungsstrukturen und dem öffentlichen Gesundheitsdienst zu rechnen“. Problematisch würden auch Personalausfälle – vor allem im ärztlichen und pflegerischen Bereich, aber auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens.
Wir haben massiv Zuläufe von Menschen mit Long Covid und Post-Covid – und mit Omikron ist erst mal kein Ende in Sicht.
Jördis Frommhold
Long-Covid-Spezialistin
Die Präsidentin des Fachverbands Long Covid, Jördis Frommhold, verweist zudem darauf, dass bei so vielen Ansteckungen auch mehr Menschen mit dem Krankheitsbild zu kämpfen haben werden. Wie viele genau es sind, sei schwer zu beziffern. „So oder so ist hier aber von mehreren Hunderttausend bis zu Millionen Menschen die Rede, die Spätfolgen haben werden – und das allein in Deutschland“, sagte die Chefärztin an der Median-Rehaklinik in Heiligendamm dem RND. Schon jetzt müssten Betroffene bis zu ein Jahr warten, bis sie einen Behandlungsplatz bekommen. „Wir haben massiv Zuläufe von Menschen mit Long Covid und Post-Covid – und mit Omikron ist erst mal kein Ende in Sicht.“
Was folgt 2022 auf die Omikron-Welle?
Einig sind sich Forschende darin, dass sich die Lage im Frühjahr und Sommer mit steigenden Temperaturen wieder deutlich entspannt. Nur was folgt im Herbst und Winter? Die gute Nachricht: Die Pandemie könnte früher auslaufen als noch vor dem Auftauchen von Omikron angenommen – weil schon sehr viele Menschen Kontakt mit dem Virus hatten, Ungeimpfte wie Geimpfte. So hält es die EU-Arzneimittelbehörde EMA für möglich, dass die rasante Ausbreitung der Variante zu einer endemischen Lage führen könne. Omikron könne wie ein „natürlicher Booster“ wirken, sagte Marco Cavaleri, Leiter der EMA-Abteilung biologische Gesundheitsbedrohungen und Impfstrategien, vergangene Woche in Amsterdam. „Wenn viele Menschen eine starke Immunität haben, könnte das der Weg zur Endemie sein.“
Zwei Unsicherheiten bleiben aber noch: Es ist noch nicht klar, wie gut der Immunschutz nach einer überstandenen Infektion mit Omikron auch vor der Ansteckung mit anderen Varianten schützt. Und es ist denkbar, dass im Laufe dieses Jahres nach Omikron weitere besorgniserregende Varianten folgen. Diese könnten den Immunschutz auf andere Weise umgehen, ansteckender sein oder häufiger krank machen. Es könnte aber auch sein, dass nach Omikron keine Variante mit unheilvolleren Eigenschaften auftaucht.
Diese offenen Fragen treiben auch Karl Lauterbach um. Gegenüber der „Bild am Sonntag“ sagte der Gesundheitsminister: „Es ist gut möglich, dass wir es im Herbst mit einem mutierten Delta-Typ zu tun bekommen. Wer jetzt als Ungeimpfter an Omikron erkrankt, hätte im Herbst gegen eine neue Delta-Variante wahrscheinlich einen Infektionsschutz von deutlich unter 50 Prozent.“ Es führe deshalb kein Weg an der Impfung vorbei.
„Im nächsten Winter rechne ich noch einmal mit einer starken Inzidenzerhöhung“, sagte der Virologe Christian Drosten im Gespräch mit dem „Tagesspiegel“. „Und wir werden wohl auch wieder Masken tragen müssen in Innenräumen, weil der Übertragungsschutz noch einmal ein wenig sinken wird und die Vulnerablen in der Bevölkerung geschützt werden müssen, besonders die alten Geimpften und die Ungeimpften jeden Alters.“ Wirklich ins Gewicht fallende Einschränkungen würden aber wahrscheinlich nicht mehr nötig sein, wenn die endemische Phase erreicht würde. Man werde nur weiter Rücksicht nehmen müssen auf den Teil der Bevölkerung, der im Risiko stehe.
mit Material von dpa