Kinder mit Behinderungen

„Wir sind mit unseren Kräften am Ende“: Mutter eines Kindes mit Behinderung über die Pandemiebelastung

Foto: Laut einer Studie des Berlin-Instituts droht Schleswig-Holstein wegen des Wegzugs junger Menschen den Anschluss zu verlieren.

Für Eltern von Kindern mit Behinderungen waren die vergangenen zwei Jahre eine zusätzliche Belastung.

Laut Schätzungen des Robert Koch-Instituts zählen etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche unter 17 Jahren zur Corona-Risiko-Gruppe. Maximilian Meyer (Name von der Redaktion geändert) ist einer von ihnen. Der 16-Jährige hat eine körperliche und geistige Behinderung. Von ihrem Alltag in den vergangenen zwei Pandemiejahren berichtet seine Mutter Svenja Meyer (Name von der Redaktion geändert).

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Eine Corona-Infektion hätte für meinen Sohn dramatische Folgen

„Dass eine Corona-Infektion für Maximilian vermutlich lebensbedrohlich wäre, davor warnte uns die Kinderärztin schon zu Beginn der Pandemie. Ihre Prognose im März 2020: Vermutlich wird ihr Sohn ein paar Monate nicht in die Schule gehen können. Am Ende waren es anderthalb Jahre. Eine Maske konnte er anfangs nicht tragen, Abstandhalten fiel ihm schwer. Auch das Hygienekonzept für die Förderschule überzeugte uns wenig. Also mussten wir auf eine Impfung für ihn und für uns warten. Im Sommer 2021 bekam er endlich die zweite Impfung und damit war der Weg frei für etwas mehr Normalität.

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Die letzten 18 Monate waren eine ziemliche Belastung für unsere Familie. Und das sage ich aus einer sehr privilegierten Situation heraus. Ich kümmere mich in Vollzeit um meinen Sohn. Seine Geschwister sind sehr selbstständig und verantwortungsvoll. Finanzielle Sorgen durch die Pandemie bestanden nicht, auch mein Mann konnte im Homeoffice arbeiten. All das ändert nichts daran, dass wir mit unseren Kräften am Ende sind.

Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es Alleinerziehenden oder Familien ohne diese Möglichkeiten gehen mag. Vor der Pandemie konnten wir uns gut funktionierendes Netzwerk zur Entlastung verlassen. Mein Sohn ging fast jeden Tag bis um 14.30 Uhr zur Schule, bekam dort auch Physiotherapie, Logopädie oder Ergotherapie. Für zusätzliche Entlastung sorgten Freizeitbegleiter, die ab und zu mit meinem Sohn Ausflüge unternahmen und den Nachmittag verbrachten. Früher ging mein Sohn auch noch zur Freiwilligen Feuerwehr und bekam Schlagzeugunterricht in der Musikschule. In den Ferien fuhr er regelmäßig auf inklusive Ferienfreizeit. So gab es für uns wichtige Kraftoasen in einem herausfordernden Alltag. Und genau dieses Unterstützungsnetzwerk, das wir uns über Jahre mühevoll aufgebaut hatten, fiel nun komplett weg und funktioniert bis heute nur sehr eingeschränkt. Das mussten und müssen nun alles wir als Familie auffangen – von Pflege bis Förderung.

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Mein Sohn war immer an meiner Seite

Im Prinzip war mein Sohn anderthalb Jahre von 7.30 bis 20.30 Uhr permanent an meiner Seite, unterbrochen von kurzen Spielphasen mit Playmobil und iPad-Zeit. Mein Mann ist beruflich sehr eingebunden und konnte mich deshalb nur wenig entlasten. Auch seinen beiden Geschwistern möchte ich die Rolle als Betreuer oder Pfleger nicht zumuten – sie haben in den letzten zwei Jahren schon genug zurückgesteckt. Sie blieben länger im Homeschooling und trafen Freunde meistens nur draußen. Also habe ich die schulische Förderung übernommen, war Therapeutin, Sonderpädagogin, „Pflegekraft“ und Mutter in einer Person. Insgesamt habe ich so etwa 40 Stunden pro Woche zusätzliche Betreuung übernommen. Eine finanzielle Entschädigung, zum Beispiel eine Erhöhung der Pflegestufe für die Zeit der Pandemie, ist dafür nicht vorgesehen. Bei meiner Krankenkasse hatte man zwar viel Verständnis für unsere Situation, verwies aber auf die starren Vorgaben der Pflegekassen. Auch finanziellen Zuschuss für Kurzzeitpflege bekommt man nur, wenn das Kind auf eine Freizeit fährt oder familienentlastende Angebote in Anspruch nimmt. Hier hätte ich mir mehr Flexibilität in der Sozialgesetzgebung gewünscht, mehr unkonventionelle Hilfe aus der Politik.

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Natürlich will ich mich nicht nur beklagen. Maximilian hat die Zeit zu Hause und die ungeteilte Aufmerksamkeit gutgetan. Zum Beispiel habe ich ihn fest in die tägliche Hausarbeit eingebunden. Wir haben zusammen gekocht, die Spülmaschine ausgeräumt oder die Waschmaschine angestellt. Auch sonst ist er viel selbstständiger geworden. Er macht sich selber morgens fertig, schmiert sich Brote. Kleine Schritte, aber für einen jungen Mann mit geistiger Behinderung ein großer Fortschritt. Das ist eine sehr lebenspraktische Förderung, die so in der Schule wahrscheinlich kaum möglich wäre. Als absehbar war, dass mein Sohn länger nicht in die Schule gehen wird, habe ich mir außerdem Fördermaterialien besorgt, von der Schule und durch Empfehlungen von anderen Familien und unseren Therapeuten.

Nach den anderthalb Jahren „Zuhausebetreuung“ waren meine Kräfte völlig am Ende, selbst das Aufstehen fiel mir schwer.

Auch hier haben wir einiges geschafft. Maximilian kann nun kurze Worte lesen und besser zählen. Diese großen Fortschritte hat selbst seine Lehrkräfte überrascht. Einerseits freut mich das, anderseits zeigt es auch die großen Schwierigkeiten im Schulsystem. Es gibt einfach zu wenig pädagogische Fachkräfte für eine echte individuelle Förderung der Kinder. Dieser Tage hat unsere Förderschule wieder die Betreuungszeiten gekürzt, weil ihnen das nötige Personal fehlt – sowohl Sonderpädagoginnen als auch Schulbegleiter. Und die Last tragen wieder wir Eltern.

Die Probleme gab es schon vorher, sie sind nur noch sichtbarer geworden

Die großen Fortschritte haben nämlich ihren Preis. Nach den anderthalb Jahren „Zuhausebetreuung“ waren meine Kräfte völlig am Ende, selbst das Aufstehen fiel mir schwer. Zum Glück ging Maximilian nun wieder in die Schule und es gab wenigstens zeitweise Entlastung. Außerdem konnte ich eine dreiwöchige Mutter-Kind-Kur mit ihm machen. Ein bisschen konnte ich meine Akkus so wieder füllen. Trotzdem merke ich, dass meine Nerven längst nicht mehr so belastbar sind, wie vor der Pandemie. Ein simples Beispiel: Maximilian ist zweifach geimpft und zusätzlich geboostert. Trotzdem müssen wir alle drei Tage einen Corona-Test in der Schule vorlegen. Das empfinde ich als unsagbar belastend, vor allem weil die Regel wieder über unsere Köpfe entschieden wurde, ohne Möglichkeit zur Mitsprache. Ob ich von der Corona-Politik wirklich enttäuscht bin, kann ich nicht mal so genau sagen. Vermutlich sind in der Pandemie die Versäumnisse der Politik nur offensichtlicher geworden.

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Viele Dinge in Sachen Inklusion haben auch schon vor Corona nicht richtig funktioniert.

Viele Dinge in Sachen Inklusion haben auch schon vor Corona nicht richtig funktioniert – von guten Konzepte zur Entlastung der Familie bis zur personellen Ausstattung der Schulen. Was mich eigentlich viel mehr stört, ist der Umstand, dass niemand an unsere Belange denkt oder sich auch nur mal nach unserer Situation erkundigt. Zum Beispiel wurden uns im Frühjahr 2021 nur zwei Impfdosen zugesprochen und das, obwohl wir eine fünfköpfige Familie sind und die Maximilians Geschwister eben in die Schule gehen mussten und sollten. Wir haben uns tagelang den Kopf zerbrochen, wer nun die zweite Impfung neben Maximilian bekommt. Dann wurde uns zum Glück die schwierige Entscheidung abgenommen, von einer engagierten Kinderärztin, die eine Lösung für ganze Familie fand. All diese Kleinigkeiten zeigen, dass wir Eltern von Kindern mit Behinderung in der öffentlichen Diskussion und bei politischen Entscheidungen einfach nicht gesehen werden. Das macht mich traurig und wütend – vor allem es mir zeigt, wie weit wir noch von einer echten Inklusion der Gesellschaft entfernt sind.

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