Zwischen Endemie und extremer Krankheitswelle: Brauchen wir noch Schutzmaßnahmen?
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Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ruft dazu auf, die geltenden Schutzmaßnahmen noch für einige Wochen mitzutragen. Was sagen andere Expertinnen und Experten?
© Quelle: Marijan Murat/dpa
Die Zeiten der coronabedingten Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und weitreichenden Testpflichten sind längst vorbei. Doch fallen nun auch die wenigen letzten Schutzmaßnahmen – und kann Deutschland damit endgültig zur „Normalität“ zurückkehren? Immer mehr Expertinnen und Experten sind sich einig: Die Pandemie neigt sich dem Ende zu. Allerdings bereitet Medizinerinnen und Medizinern aktuell die enorme Krankheitswelle Sorgen, in der Menschen vor allem an anderen Atemwegserkrankungen erkranken. Wäre ein Ende der Maskenpflicht vor diesem Hintergrund überhaupt sinnvoll?
Welche Atemwegserkrankungen grassieren aktuell?
Die bundesweite Corona-Inzidenz war bis Ende November noch rückläufig, doch seit Anfang Dezember registriert das Robert Koch-Institut (RKI) wieder steigende Werte. Aktuell liegt sie bundesweit bei 199.7 Infektionen pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern (Stand: 28. Dezember) – wobei bei den erhobenen Werten davon ausgegangen wird, dass viele Erkrankungen nicht erfasst werden.
Covid ist jedoch aktuell nicht der Atemwegsinfekt, der in Deutschland für die größten Probleme sorgt – denn laut RKI macht er nur einen Anteil von 5 Prozent aus. 55 Prozent der Infektionen, die zu einem Arztbesuch führten, waren zuletzt Influenzaviren, wie das RKI in seinem Wochenbericht vom Donnerstag schreibt. 15 Prozent der Infektionen werden von Humanen Respiratorischen Synzytial-Viren (RSV) ausgelöst.
Das RKI betonte in seinem aktuellen Influenza-Wochenbericht zudem, dass vor allem die Grippewelle diesen Winter besonders stark ausfällt. „Die Werte liegen aktuell weiterhin über dem Niveau der Vorjahre zum Höhepunkt schwerer Grippewellen“, hieß es. Auffällig war zudem, dass die Grippewelle in dieser Saison früher begann als noch in den Vorjahren. Bereits Ende Oktober verzeichnete das RKI steigende Grippefallzahlen. Zum Vergleich: In den Jahren vor Corona begann die Grippewelle laut RKI meist im Januar und dauerte drei bis vier Monate.
Hinsichtlich der aktuell zahlreichen Grippefälle spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Catherine Bennett, Professorin für Epidemiologie an der Deakin University in Melbourne, berichtete dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) Ende Oktober, dass es den Viren in die Karten spiele, dass das Immunsystem nicht mehr mit ihnen vertraut ist, da Corona-Schutzmaßnahmen in den vergangenen Jahren jeglichen Kontakt mit den Erregern unterbunden hatten. Zuvor bekam das Immunsystem vieler Menschen jedes Jahr einen natürlichen Booster.
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Wer ist besonders hart von der Krankheitswelle betroffen?
Die Gesamtrate der akuten Atemwegserkrankungen ist laut RKI deutlich höher als noch in den Vorjahren. Es wird geschätzt, dass etwa neun Millionen Menschen in Deutschland derzeit an einer Atemwegserkrankung leiden. Betroffen sind vor allem Kinder und Jugendliche, was sich auch an der Situation in den Kinderkliniken zeigt, die seit Wochen am Limit sind. Aber auch die Lage in den Krankenhäusern ist angespannt.
Denn aufgrund der vielen Erkrankungen in der Bevölkerung – auch bei den Pflegekräften und Ärztinnen und Ärzten – sowie des anhaltenden Personalmangels habe man bundesweit kaum noch freie Intensivbetten, sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin, Christian Karagiannidis, gegenüber dem RND.
Die Krankenhäuser hätten selbst zu Hochzeiten der Corona-Pandemie mehr freie Intensivbetten gehabt, weil die damaligen Maßnahmen gut gegriffen hätten. „Immer wieder stoßen Krankenhäuser deshalb gerade jetzt ohne Maßnahmen an ihre Grenzen“, sagte er.
Schützen Masken überhaupt auch vor anderen Atemwegserkrankungen als Covid?
Das RKI betont: Masken schützen auch vor RSV-Infektion und Grippe. FFP2-Masken gelten dabei als sicherster Schutz: Mithilfe eines Filters schützen sie die Trägerin oder den Träger vor Partikeln, Tröpfchen und Aerosolen. Sie filtern sowohl die eingeatmete als auch die ausgeatmete Luft. Sprich: man schützt sich selbst und auch andere. Der medizinische Mund-Nasen-Schutz filtert ebenfalls die Atemluft, jedoch nur die ausgeatmete. Dadurch schützt man damit in erster Linie andere.
Drosten spricht von Endemie – kommt nun das Ende der Schutzmaßnahmen?
Nach Ansicht des Virologen Christian Drosten ist die Corona-Pandemie vorüber – man erlebe diesen Winter die erste endemische Welle mit Sars-CoV-2, sagte er gegenüber dem „Tagesspiegel“. Brauchen wir vor diesem Hintergrund überhaupt noch die Maskenpflicht, die bundesweit in Fernzügen- und bussen sowie in Arztpraxen, Kliniken und Pflegeheimen gilt? Oder die Isolationspflicht, die in einigen Bundesländern nach Ansteckung mit dem Coronavirus noch gilt?
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hält vorerst noch an ihr fest. Er rief die Bevölkerung dazu auf, geduldig zu sein und die geltenden Schutzmaßnahmen noch für einige Wochen mitzutragen. „Da kommt es doch jetzt nach drei Jahren Pandemie noch auf ein paar Wochen nicht an“, sagte Lauterbach im „Heute Journal“ des ZDF.
Einige Bundesländer haben sich indes schon von der Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr verabschiedet. In Bayern und Sachsen-Anhalt ist sie bereits gekippt, in Schleswig-Holstein läuft sie zum Jahresende aus. Die anderen Bundesländer sind dagegen noch unentschlossen.
Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein und haben sich zudem bereits von der Isolationspflicht bei positivem Corona-Test verabschiedet. Für Infizierte gibt es jedoch eine verschärfte Maskenpflicht.
(Wie lange) brauchen wir die Schutzmaßnahmen noch?
Der Virologe Martin Stürmer von der Uni Frankfurt hält die Maskenpflicht noch für zwei Monate für vertretbar. Das sei eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass auch wieder vermehrt Corona-Infektionen hinzukommen, sagte er dem RND. Gleichzeitig müsse man künftig die Maßnahmen besser gegen Folgeschäden abwägen – das zeige die aktuelle Infektionslage bei Kindern und Jugendlichen. „Dem Immunsystem fehlte die regelmäßige Auseinandersetzung mit vielen Erregern von Atemwegserkrankungen, die normalerweise dafür sorgt, dass ein Schutz aufrechterhalten bleibt. Dadurch gelingt es nun weniger gut, diese abzuwehren“, sagt Stürmer. Aus solchen Erfahrungen müsse man lernen. Mit einem endgültigen Maßnahmenende rechnet er spätestens nach dem Winter.
Die Rufe nach einem sofortigen Ende aller Corona-Schutzmaßahmen – wie die des Bundesjustizministers Marco Buschmann (FDP) – stoßen jedoch bei Deutschlands größter Ärzteorganisation, dem Marburger Bund, auf Unverständnis. „Die Aufhebung aller Maßnahmen ist zutiefst unsolidarisch mit dem Klinikpersonal, das in der Pandemie viel geleistet hat und gerade wieder die Grenzen der Belastbarkeit erreicht hat“, sagte die Verbandsvorsitzende Susanne Johna dem RND. Sie warne davor, eine politische Entscheidung auf dem Rücken des Gesundheitspersonals zu treffen. Auch wenn sie Drosten zustimme, dass Deutschland einen endemischen Zustand erreiche, warnt sie: „Der Winter ist noch lange nicht vorbei.“
RND/bk/ih/scs/dpa