Annenmaykantereit: auch ein bisschen Karnevalsband
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Band der Stunde: Henning May, Christopher Annen und Severin Kantereit (von links) von Annenmaykantereit.
© Quelle: Martin Lamberty/Check your Head/
Vielleicht hatten Christopher Annen, Henning May und Severin Kantereit etwas Buntes wie Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band vor Augen, als sie ihre Kostüme auswählten. Die drei Kölner, die ihre Band Annenmaykantereit nennen, spielten am 11. 11. beim Karnevalsauftakt auf dem heimischen Heumarkt „Tommi“, ein Lied über zwei seit Kindheitstagen beste Freunde, die nun in der Fremde leben. Der Song beflügelt dieselbe Sehnsucht nach einem Zuhause und ein bisschen Sicherheit wie die alte Bläck-Fööss-Hymne „En unserem Veedel“.
Mays Viertel ist Köln-Sülz. „Da, wo wir zusammen groß geworden sind, da ziehen wir alle irgendwann wieder hin“, singt er, grün-schwarz gestreift. Annen, blau-weiß gestreift, und Kantereit, ganz in Rot, stimmen beim Refrain mit ein, genauso wie viele der Kölnerinnen und Kölner vor der Bühne. „Damit die Kinder, die wir kriegen können, alle in Kölle geboren sind.“
May lächelt, als er merkt, dass der sentimentale Süßstoff seine Wirkung zeigt.
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In gewisser Weise sind Annenmaykantereit aufgrund ihrer Heimatverbundenheit auch ein bisschen Karnevalsband. Ihre Songs sind nie von Fernweh geprägt, sondern oft von einer Art Heimweh. Das ist auch auf ihrem neuen, vierten Album „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ so.
Mit dem Song „3. Stock“ besangen die Musiker schon in jungen Jahren den Zufluchtsort Altbauwohnung. Das Liebeslied war an einen besonderen Menschen gerichtet: an den Menschen, mit dem man später einmal eine gemeinsame Wohnung beziehen würde, mit dem man sich vorstellen könnte, zusammen alt zu werden. „Ich würde auch manchmal morgens Brötchen holen“, sang May, damals 24.
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Annen, May und Kantereit erspielten sich schnell den Ruf einer Band, die auch Eltern gefällt, weil sie eher besorgt, eher unrebellisch, eher vernünftig klangen. Manchen Kritikerinnen und Kritikern gefiel die Musik genau deshalb nicht; als ließe sich der Generationenkonflikt mit diesen jungen Leuten schlecht bestreiten.
May ist inzwischen 31. Wie erwachsen er sich heute fühlt, erzählte er kürzlich im Podcast von Entertainer Kurt Krömer. „Bist du eine alte Seele?“, fragte Krömer. Nein, antwortete May. Das behaupteten viele über ihn. „Dafür lese ich zu wenig.“
Schlagzeuger Severin Kantereit lebt inzwischen tatsächlich in einer Altbauwohnung. Man erkennt das beim Zoom-Interview an der hohen Zimmerdecke. „Ich hatte Glück, etwas zu finden, wo noch Stuck oben dran ist“, erzählt der 30-Jährige. Vor ein paar Jahren ist er, genauso wie May, nach Berlin gezogen. Wegen der neuen, anderen Möglichkeiten.
Bis dahin hatten die beiden lange zusammen mit zwei früheren Schulfreunden in einer WG gelebt. Jetzt hat jeder seine eigene Wohnung. Nur Gitarrist Christopher Annen (32) ist in Köln geblieben.
Lieder für die Leisen, die immer leiser werden
„Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ vereint eine Reihe vermeintlich unscheinbarer Songs, die an bestimmten, stuckverzierten Stellen zu leuchten beginnen: Wenn die Trompete einsetzt in „Als ich ein Kind war“ zum Beispiel. Die Band tröstet mit diesem Lied die Leisen, die immer leiser werden, in einer Zeit, in der die Lauten immer lauter werden. Auch in „3 Tage am Meer“ beschreibt die Band die Sehnsucht nach Ruhe und Unkompliziertheit im Weltchaos. „Ohne alle anderen“, singt May, wolle er sich in die Abgeschiedenheit flüchten.
Im Song „Erdbeerkuchen“ geht es einfach nur um Erdbeerkuchen. Das Lied ermöglicht es Band und Fans auszurasten, loszulassen, wegzutanzen, die Tristesse, die schlechten Nachrichten über Kriege und Krisen, die Zukunftsangst für einen Moment auszublenden. Dass das Lied an „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ erinnert, ist kein Zufall. „Wir haben auch durch unsere Eltern ein bisschen Westernhagen-Prägung bekommen“, sagt Kantereit.
In manchen Liedern gibt May seinen Figuren konkrete Namen. „Die Vögel scheißen vom Himmel, und ich schau dabei zu, und ich bin hier und alleine, Marie, wo bist du?“, fragte er 2018 in „Marie“. „Manchmal denk ich, die Welt ist ein Abgrund, und wir fallen, aber nicht allen fällt das auf, und so nimmt alles, alles seinen Lauf.“ Marie ist hier wohl keine Frau, nach der sich der Sänger verzehrt, der Name steht als eine Art Synonym für Hoffnung und Zuversicht.
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Nun wendet er sich an „Katharina“. „Katharina, ich glaub an dich. So viele Zweifel, die brauchst du nicht“, singt er. Wer ist Katharina? Gibt es sie wirklich oder besingt May hier seine eigenen zerstörerischen Selbstzweifel? „Das möchten wir offen lassen“, sagt Kantereit.
Ein desillusioniert klingendes Klavier
In „Heute Abend wird es regnen“ geht es um jemanden, der dabei ist, verloren zu gehen: „Ich glaube, heute Abend wird es regnen. So wie ich dich kenne, passt dir das ganz gut. Du willst niemandem begegnen, außer dem Rauschgift in deinem Blut.“ Wer hofft da auf Regen? Woher kommt diese harte Melancholie? Weshalb spielt May bisweilen ein desillusioniert klingendes Klavier? In „Marie“ gab er einen Hinweis darauf: „Mein bester Freund ist viel zu jung gestorben“, singt er, „und schon so lange hab ich keine Mutter mehr.“ Ja, diese Zeilen seien autobiografisch, sagte er in einem früheren Interview. Mehr mochte er nicht offenbaren.
Man glaubt, den Sänger durch die Art seiner Texte trotzdem ein wenig kennenzulernen. „Geschichten werden vergessen, wenn niemand sie mehr erzählt. Mein Vater denkt immer an früher, wenn er Orangen schält“, reimt May im „Orangenlied“. Das Stück über die unerbittlich verrinnende Zeit erinnert an „Oft gefragt“, Mays erstes Vaterlied. „Ich hab keine Heimat, ich hab nur dich. Du bist zu Hause, für immer und mich“, sang er 2016.
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Damals haben ihn viele mit Rio Reiser verglichen. Die Tiefe, Rauheit und Verletzlichkeit in seiner Stimme erinnern tatsächlich an den Sänger der Band Ton Steine Scherben. Doch heute braucht es diesen Vergleich nicht mehr, die Stimme ist groß und selbstständig geworden. May ist ohnehin kein Barrikadentyp. Er singt nicht wie einst Reiser vom Umbruch, aber von Dingen, die Menschen kaputtmachen können und die angsteinflößend sind.
Protestsongs wie „Weiße Wand“ (2018) gegen die im Zuge der Flüchtlingskrise zunehmende Fremdenfeindlichkeit schreiben Annen, May und Kantereit selten. Sie kritisieren lieber „indirekt“, wie der Schlagzeuger es ausdrückt. Einer dieser indirekten Protestsongs ist „Kein Stern“. Der vor der umstrittenen Wüsten-WM in Katar veröffentlichte Titel ist eine Hommage von Bolzplatztyp May an das Bolzplatzspiel Fußball. Man kann sich gut vorstellen, wie der Sänger als Kind jeden Tag mit aufgeschürften Knien nach Hause kam.
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Ihre politische Haltung demonstrieren die Musiker lieber, indem sie bei Kundgebungen Kurzkonzerte geben, so wie im Januar, als das Braunkohledorf Lützerath geräumt wurde. Sie unterstützen die Klimaaktivisten von Fridays for Future, genauso wie die Seenotrettungsorganisation SOS Méditerranée. Kantereit sieht sich nicht als Aktivist im herkömmlichen Sinn. „Wir versuchen, durch unsere Anwesenheit auf Themen aufmerksam zu machen“, sagt er. „Wir versuchen, unsere Reichweite zu nutzen.“
Wohlerzogener Folkpop
Die Popularität, die sie seit 2011 erreicht haben, ist beeindruckend. Während andere Mitschüler nach dem Abitur am Sülzer Schiller-Gymnasium die Welt bereisten, gründeten sie ihre Band. „Wir stellten uns ein bisschen auf die Straße“, erzählt Kantereit. Dort, in den Fußgängerzonen, erfanden sie ihren wohlerzogenen Folkpop.
Heute sind sie ein Massenphänomen und eine Band der Stunde, weil sie in furchterregenden Zeiten das Miteinander betonen. Im vorigen Dezember spielten sie zwei Hallenkonzerte vor jeweils 15.000 Fans in Köln. Im September treten sie erneut dort auf – dann im Fußballstadion.
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Dort werden sie sicher auch „Tommi“ spielen. In die Kabine des 1. FC Köln hat der Song es schon geschafft, wie ein FC-Video zeigt. Nach jedem Sieg sollen die Profis das Lied in der vergangenen Saison gesungen haben. Man sieht sie auf den Sitzbänken stehen, Flaschenbier in der Hand, die Fußballstiefel schon ausgezogen, und man hört: Das Stück funktioniert auch als Badelatschenversion.