Vom Roman zum Oscar

Vom Schrecken des Krieges: „Im Westen nichts Neues“

Das große Sterben: Szenenfoto aus dem Spielfilm „Im Westen nichts Neues“ mit Felix Kammerer in der Rolle des Paul Bäumer.

Das große Sterben: Szenenfoto aus dem Spielfilm „Im Westen nichts Neues“ mit Felix Kammerer in der Rolle des Paul Bäumer.

Den Satz sprach Regisseur Edward Berger schon Monate aus, bevor sein Film „Im Westen nichts Neues“ bei den Oscars zum Siegeszug ansetzte: Der Stoff sei „leider relevanter, als wir es erwartet haben.“ Die Aussage verblüffte. Kann einem Filmemacher denn etwas Besseres passieren? Zumal sich Berger auf einen Roman stützt, der beinahe schon hundert Jahre alt ist und als Klassiker der Weltliteratur gilt.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Doch handelt dieses Buch vom Schrecken eines Krieges. Berger hat Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ über die Erfahrungen des Autors im Ersten Weltkrieg verfilmt. Heute tobt wieder ein Krieg in Europa, dessen Grauen täglich in Fernsehbildern dokumentiert wird.

Der Weltkrieg von 1914 bis 1918 war ein Schlachten, wie es die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte. Erstmals zogen Giftschwaden über Schützengräben, erstmals brachten Flugzeuge den Tod aus der Luft, erstmals zermalmten Panzerketten Verteidigungslinien. In einem mörderischen Stellungskrieg gruben sich die Kombattanten ein und starben für ein paar Meter Geländegewinn.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Und noch etwas war damals neu: Mehr Soldaten als je zuvor kamen mit psychischen Schäden nach Hause zurück. Von „Kriegszittern“ oder „Granatenschock“ war damals die Rede. Die Männer litten unter Panikattacken und Schweiß­ausbrüchen, waren gelähmt oder sprechunfähig, ohne dass dafür körperliche Ursachen zu finden waren.

Vielfach wurden sie als Schwächlinge verachtet. Die Militärführungen wollten seelische Wunden keinesfalls als ernst ­zu nehmende Verletzungen anerkennen. Solange alle Gliedmaße dran waren, sollte ein Soldat ordentlich fürs Vaterland in die Schlacht ziehen.

Versehrt an Körper und Seele

In manchen Armee­kranken­häusern wurde regelrecht nach angeblichen Simulanten gefahndet. Das Problem war bloß: Es gab zigtausende Männer mit diesen Symptomen. Allein die britische Armee zählte bis Kriegsende 80.000 Soldaten, die nicht mehr einsatzfähig waren.

Erst viele Jahrzehnte später, in der Folge des Vietnam-Kriegs, kristallisierte sich ein Begriff für dieses Leiden heraus. Psychologen sprechen von einer Post­traumatischen Belastungs­störung, wie sie genauso Opfer von Folterungen oder auch von häuslicher Gewalt erleiden.

„Im Westen nichts Neues“ für neun Oscars nominiert
The announcing of nominees concludes during the 95th annual Academy Awards nominations announcement at the Samuel Goldwyn Theater in Beverly Hills, California, on Tuesday, January 24, 2023.The 95th annual Academy Awards will be televised live on ABC from Los Angeles on March 12, 2023. PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY LAP2023012429 JIMxRUYMEN

Die erste deutsche Verfilmung des Weltkriegsromans von Erich Maria Remarque geht unter anderem in der Top-Kategorie „Bester Film“ ins Rennen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Auch Erich Maria Remarque gehörte zu jenen, die an Körper und Seele versehrt zurück­kehrten. Er litt unter Angstattacken und Depressionen. Dabei war er wohl nur sechs Wochen an der Front. Aber das reichte aus, um aus ihm einen überzeugten Pazifisten zu machen – während andere wie Ernst Jünger auch hinterher den Krieg ästhetisierten.

An der Front in Flandern

Zu Beginn des Krieges im August 1914 war Remarque gerade 16 Jahre alt. Er besuchte in Osnabrück ein katholisches Seminar und ließ sich zum Volks­schul­lehrer ausbilden. Im November 1916 wurde er nach einem Notexamen eingezogen und kam im Juni 1917 an die Westfront.

Zu seinen Hauptaufgaben in Flandern gehörte das Schanzen, um die deutschen Linien gegen britische Offensiven zu wappnen. Immer wieder lagen die Soldaten unter schwerem Beschuss. Schon im Sommer 1917 wurde Remarque durch Granatsplitter verwundet. Er kam in ein Armee­hospital in Duisburg. Der Krieg war vorbei, bevor er zurück an die Front hätte zurück­kehren müssen.

Das Stream-Team

Die besten Serien- und Filmtipps für Netflix & Co. direkt in Ihr Postfach – jeden Monat neu.

Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Heute ist sich die Forschung sicher, dass Remarque viele der in seinem Roman geschilderten Schrecknisse gar nicht selbst erlebt hat. Das Gemetzel im Nahkampf mit Klappspaten und Handgranaten, das Verharren in überfluteten Granat­trichtern und das Zischen der Geschosse über den Köpfen: Viele dieser Erlebnisse hatten ihm wohl Leidens­genossen in seiner Zeit im Krankenhaus geschildert.

Aber die meisten von ihnen redeten nach dem Krieg nicht mehr darüber. Sie vermochten es nicht, den Horror in Worte zu fassen.

„Die verlorene Generation“

Dann erschien am 29. Januar 1929 „Im Westen nichts Neues“ im Propyläen-Verlag in Berlin. Zuvor war der Roman schon in der „Vossischen Zeitung“ abgedruckt worden und hatte die Auflage des Blattes in die Höhe schnellen lassen. Angekündigt worden war das Werk als Erlebnisbericht eines Frontsoldaten: „Einer aus der grauen Masse, einer von Hundert­tausenden, die als halbe Kinder dem Ruf zu den Fahnen freiwillig folgten, begeistert, ahnungslos …“

Der Erfolg des Romans überstieg alle Erwartungen: Er wurde noch im Erscheinungsjahr in 26 Sprachen übersetzt. Bis heute gibt es Ausgaben in mehr als 50 Sprachen. Weltweit wurde das Buch mehr als 20 Millionen Mal verkauft. Remarque hatte den Nerv einer ganzen Generation von Kriegs­teil­nehmern getroffen.

Remarque selbst verwendete den damals schon bekannten Begriff von der „verlorenen Generation“. Von der Schulbank weg seien sie in den Krieg geschickt worden. Im Buch sinniert der Held Paul Bäumer, hinter dem sich seine eigene Person verbirgt: „Die älteren Leute sind alle fest mit dem Früheren verbunden, sie haben Grund, sie haben Frauen, Kinder, Beruf und Interessen. Wir waren noch nicht eingewurzelt. Der Krieg hat uns weg­geschwemmt.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Remarque selbst hielt seinen Roman für unpolitisch: „Mein eigentliches Thema war ein rein menschliches, dass man junge Menschen von 18 Jahren, die eigentlich dem Leben gegen­über­gestellt werden sollten, plötzlich dem Tod gegen­über­stellte.“

Joseph Goebbels organisierte Proteste

Die erste von zwei US‑Kino­adaptionen erlebte ihre Berliner Premiere bereits im Dezember 1930. Nun zeigte sich, wie verhasst das Buch und in der Nachfolge der Film von Regisseur Lewis Milestone bei all jenen war, die noch immer den vergangenen Krieg lobpriesen und insgeheim schon den nächsten herbeisehnten.

Joseph Goebbels, Gauleiter der NSDAP in Berlin, zettelte bei der Premiere Proteste an. Es kam zu Tumulten. Stinkbomben und weiße Mäuse wurden im Saal losgelassen. Rund 1500 Personen versuchten, das Kino zu stürmen. Gäste, besonders vermeintlich jüdische, wurden angepöbelt und verprügelt.

Ob er noch einen Film dreht? Woody Allen ist sich da nicht sicher.

Woody Allen: „Ich glaube nicht an den Sinn des Lebens“

Bücherregale an den Wänden, eine Kommode mit Fotos drauf: Regisseur Woody Allen meldet sich nach der Pandemie aus seinem New Yorker Apartment zurück. Er spricht über seinen neuen Film, Scarlett Johansson – und wie er mit den Missbrauchs­­vorwürfen gegen ihn umgeht.

Die Polizei rückte mit Hundert­schaften an, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Das Prozedere wiederholte sich bei nachfolgenden Vorstellungen. Wenige Tage später verhängte die Polizei ein Demonstrations­verbot, und die Oberprüfstelle verbot den Film wegen „Herabsetzung deutschen Ansehens im Ausland“.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Als 1933 in Deutschland Bücher brannten, waren auch Exemplare von „Im Westen nichts Neues“ dabei. Der Roman galt als „schädliches und unerwünschtes Schrifttum“. Da war Remarque schon in die Schweiz und später in die USA emigriert.

„Gefühl der Scham“

Erstaunlich lange hat es gedauert, bis nun erstmals ein deutscher Regisseur den Roman verfilmt: Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg sei hierzulande bis heute von einem Gefühl der Scham geprägt, so Berger. Namhafte Schauspieler von Albrecht Schuch über Devid Striesow bis zu Daniel Brühl sind mit von der Partie. Die Rolle des Paul Bäumer spielt der Österreicher Felix Kammerer, Ensemble­mitglied am Wiener Burgtheater.

Berger („Jack“, „Deutschland 83″) bettet seinen Film in eine zusätzliche Parallel­handlung ein: Bei ihm wird zeitgleich im Eisenbahn-Salonwagen in Compiègne über den Waffen­stillstand zwischen Deutschen, Franzosen und Briten verhandelt. Das soll die Dramatik des sinnlosen Sterbens so kurz vor Kriegsschluss noch verdeutlichen, nimmt dem Tod aber jene Beiläufigkeit, die den Roman gerade ausgezeichnet.

Der Titel „Im Westen nichts Neues“ verweist auf den Tag, an dem Paul Bäumer stirbt. Im Roman heißt es: „Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, dass der Heeres­bericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.“

Mehr aus Kultur

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Outbrain UK Ltd, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken