Zum Tod von Roger Willemsen

Vom Glück des Denkens

Roger Willemsen 2009 in einem Berliner Kino.

Roger Willemsen 2009 in einem Berliner Kino.

Der Roger? Der wird mal an der Tankstelle landen. Davon war sein Vater überzeugt. Genau wie Roger Willemsen selbst. Was sollte er vom Leben schon groß erwarten? Er war zweimal hängen geblieben im Gymnasium. Er versteckte sich vor der Welt in einem „durchfallfarbenen“ Parka und hinter langem Haar, das „wie angewestes Sauerkraut“ auf die Schultern schwappte. Seine einzige hervorstechende Fähigkeit war es, „die Frauen besinnungslos zu quatschen“. Im Alltag in Bonn-Oedekoven reichte es dann aber doch nur für eine englische Austauschschülerin – „die Spezies Frau, die für die libidinös Unerlösten zur Erde gebracht worden ist“.

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Der jugendliche Roger Willemsen. Ein Unerlöster. Ein hoffnungsloser Fall. Phänoytp des kiffenden, Alkohol trinkenden, Parolen schmierenden, jugendlich-verhuschten Bildungsnerds. Student der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Sein Geld verdiente er als Reiseleiter, Museumswärter und Nachtwächter mit Schreckschusspistole. Er bewachte das US-Konsulat, die FDP-Zentrale, den Schlachthof in Bonn. Keine 5 Mark gab’s dafür pro Stunde. Aber viel Zeit zum Lesen.

Denn es gibt ja nur einen Ort, an dem ein solcher Mensch das Glück finden kann: die Bibliothek. Als sich vor zwei Jahren Margret Nath in den Ruhestand verabschiedete, vier Jahrzehnte lang die Leiterin der Katholischen Pfarrbibliothek von Bonn-Oedekoven, da war Willemsen persönlich dabei. „Ich bin ihr immer dankbar geblieben“, sagte er. Am Sonntag ist Roger Willemsen im Alter von 60 Jahren in seinem Haus in Wentorf bei Hamburg an Krebs gestorben.

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Ein besessener Leser und Lerner war er. Ein unermüdlicher Präzisierer, Anschärfer und Durchdringer, der die Geisteswissenschaften stets gegen die Naturwissenschaften verteidigte („Man kann die Welt durch ein Sonett von Shakes­peare auf expansivere Weise erfahren als durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik“). Nach Jahren als Übersetzer und freier Autor im akademischen Prekariat kam 1991 der Bezahlsender Premiere auf ihn zu. Man spürte dort, dass dieser seltsame, laute, eifrige, meinungsschnelle Mann sich für das Leben interessierte. Und machte ihn zum Gastgeber der Talkreihe „0137“.

Drei Jahre talkte er – eine Zeit lang im Wechsel mit seiner damaligen Lebenspartnerin Sandra Maischberger – mit Audrey Hepburn, RAF-Häftlingen, einem Bankräuber oder auch Jassir Arafat. Dann holte ihn das ZDF nach Mainz. Sein Talk „Willemsens Woche“ wurde eine dieser polarisierenden, heftig diskutierten Wundertüten, die das Fernsehen prägten. Zu den Gästen gehörten Madonna, Yoko Ono, Sting, Gerhard Schröder, Isabelle Allende. Zwischendurch spielte der an der Glasknochenkrankheit leidende Jazzpianist Michel Petrucciani.

Wenn Christoph Schlingensief der Provokateur für die gymnasiale Oberstufe war, dann war Willemsen in seiner TV-Blüte der Schlingensief für die Elterngeneration. Mal ließ er eine nackte Frau durchs Bild laufen („dann schalten die Leute nicht mehr weg, sondern fragen sich, ob die noch mal wiederkommt“), mal zerlegte er Helmut Markworts „Focus“ Satz für Satz. Intelligentes Entertainment oder Egoshow eines eitlen Bescheidwissers? Tatsächlich war übertriebene Zurückhaltung Willemsens Sache nicht. Platte Komplimente seien ihm peinlich, den raffinierteren gegenüber sei er unkritisch, scherzte er. 1998 war dann Schluss mit dem Fernsehen, fortan blieb er Publizist und Autor. Zuletzt landete er mit seinem Buch „Das Hohe Haus“ über seine Beobachtungen im Bundestag einen Bestseller.

„Es gibt ein Glück des Denkens, das durch andere Glückszustände nicht ersetzbar ist“, fand er. Ausgiebig kokettierte er – wie auch Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek, Martin Walser – damit, dass sich auch verkopfte Intellektuelle nach Sinnesräuschen sehnen, dass auch im sprödesten Theoretikerherzen ein erotisches Ich lauert und nach Wein, Weib und Gesang verlangt. In einer verstörenden Pilotausgabe von Charlotte Roches nie gesendeter Talkshow „Wahrheit oder Pflicht?“ verrät Willemsen Details über allerhand sexuelle Kühnheiten. Gern erzählte er die Anekdote vom Diebstahl eines Goya-Bildbandes. Das dicke Buch schenkte er in der Bahnhofsgaststätte von Troisdorf einer Prostituierten. Da verbanden sich die beiden Pole in Willemsens Leben: Sinn und Sinnlichkeit. Wissen, hat er mal gesagt vermittelt Können und gibt ein Instrumentarium. Bildung dagegen habe eine moralische Komponente. „Bildung heißt, das zu werden, was man schon ist: nämlich ein Mensch.“

Es ist nicht viel Raum für Diffuses im deutschen Fernsehen, für Nachdenklichkeit, Zwischentöne, Graustufen. Dieses Medium der "konsequenten Unterforderung" (Willemsen) verlangt nach Extremen, nach klarer Verortung und absoluter Unmissverständlichkeit. Willemsen ignorierte derlei Dogmen. Er interessierte sich gleichermaßen für Opern wie für Orgasmen. Er ließ den psychisch kranken australischen Pianisten David Helfgott Fragmente aus Rachmaninows 3. Klavierkonzert spielen und sprach mit einer Pornodarstellerin über Verliebtheit am Arbeitsplatz. Willemsen war der Erfinder des Bildungsboulevard. Seine wichtigste Botschaft war der Spaß am Denken – ganz unabhängig vom Sujet.
Bei seinen Studenten, klagte er zuletzt, sehe er zunehmend "ein starkes Phlegma dem Leben gegenüber". Es war die vollständige Abwesenheit eines solchen Phlegmas, die Willemsen zu einem besonderen Menschen gemacht hat.

Roger Willemsen in Hannover

Der Mann war kein Musikexperte – darum wusste er so viele Dinge, die Spezialisten nicht wissen. Als Roger Willemsen 2011 begann, die Klassik-Extra-Reihe der NDR Radiophilharmonie im Funkhaus zu moderieren, war das etwas anders als eine gewöhnliche Konzerteinführung: Er machte die persönliche Situation eines Komponisten ebenso sichtbar wie allgemeine Geistesströmungen. Er zog manchmal absonderliche, aber immer erhellende Vergleiche zu anderen Werken – ein Verfahren, das auch seine im Funkhaus präsentierte Sendung „Willemsen legt auf“ geprägt hat. Und er überzog die Zuhörer in seinem rasanten Vortragsstil mit einer unvergleichlichen Fülle von Details. Oft war man hinterher klüger; immer wurde man angesteckt von der großen Begeisterung und Wärme, die Willemsen ausstrahlte. Das sprach sich herum: Bald moderierte er auch bei den Berliner Philharmonikern und anderen Orchestern. Hannover blieb er bis zum plötzlichen Ausbruch seiner Krankheit treu: Wegen der großen Nachfrage wurde vor zwei Jahren sogar ein regelmäßiger zweiter Termin angesetzt.

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