Wer bekommt den Literaturnobelpreis?
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Mitfavoritin: die kanadische Autorin Margaret Atwood.
© Quelle: dpa
Um den Literaturnobelpreis ist es nach turbulenten Jahren wieder etwas ruhiger geworden. Zuletzt hatte ein Skandal um sexuellen Missbrauch die Königlich Schwedische Akademie, die über den Literaturnobelpreis entscheidet, erschüttert. Am Donnerstag wird der mit 9 Millionen Schwedischen Kronen (rund 880.000 Euro) dotierte Preis wieder vergeben.
Literaturnobelpreis 2021: Verleihung im Livestream
Hier können Sie die Verleihung des Literaturnobelpreises ab 13 Uhr im Livestream sehen. Der Beginn kann sich um wenige Minuten verzögern.
2018 war der Literaturnobelpreis in seiner größten Krise
2018 stand der Nobelpreis schon fast vor seinem Ende. Dem Franzosen Jean-Claude Arnault, Ehemann des langjährigen Akademiemitglieds Katarina Frostenson, wurde sexueller Missbrauch vorgeworfen. Er soll nach Recherchen der Zeitung „Dagens Nyheter“ über Jahre hinweg weibliche Mitglieder der Akademie, Mitarbeiterinnen sowie Frauen und Töchter von Akademiemitgliedern sexuell belästigt oder missbraucht haben. Zudem sollen Frostenson und Arnault dem eigenen Kulturverein Fördergeld zugeschanzt und die Namen von sieben Nobelpreisträgern vorzeitig ausgeplaudert haben. Ende 2018 wurde Arnault wegen zweimaliger Vergewaltigung einer Frau zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.
Als Reaktion auf die Vorwürfe gegen Arnault legten 2018 mehrere Jurymitglieder ihre Arbeit nieder. Weil von 18 Mitgliedern damit nur noch zehn aktiv waren, wurde die Verleihung in dem Jahr ausgesetzt.
Kritik an Unterstützung Serbiens durch Peter Handke
2019 wurden zwei Nobelpreise verliehen. Die Auszeichnung für 2018 ging nachträglich an die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk. Die Entscheidung für den Preisträger 2019 löste den nächsten Skandal aus: Ihn erhielt Peter Handke, dem eine moralisch fragwürdige Unterstützung des serbischen Regimes im Jugoslawienkonflikt vorgeworfen wurde und der nach Ansicht von Kritikern die von Serben begangenen Kriegsverbrechen bagatellisiert oder geleugnet haben soll. Rund 400 Demonstranten begleiteten die Preisverleihung in Stockholm.
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2019 in Stockholm: Schriftsteller Peter Handke (l.) erhält den Nobelpreis von König Carl XVI. Gustaf von Schweden.
© Quelle: Henrik Montgomery/TT NEWS AGENCY
Handke hat sich vor Kurzem zum Nobelpreis geäußert: Er sieht sich in seiner viel kritisierten Parteinahme für Serbien während der Jugoslawienkriege missverstanden. „Einiges habe ich ungeschickt oder nicht ganz klar ausgedrückt. Das habe ich zu verantworten. Aber jeder Mensch, der ein bisschen weiß, wie ich bin, wird verstanden haben, wie ich es meine“, hatte der 78-Jährige in einem Interview im „Süddeutsche Zeitung Magazin“ Ende September gesagt. „Ich sehe an mir keine Schuld. Ich fühle mich oft schuldig im Leben, aber da nicht.“
Immer noch umstritten: Der Preis für Bob Dylan
Im vergangenen Jahr war es etwas ruhiger geworden, als die US-Lyrikerin Louise Glück den Nobelpreis erhielt. Aber diskutiert wird auch immer noch über die Preisvergabe an einen anderen US-Lyriker, genauer gesagt einen US-Songwriter: 2016 erhielt der Sänger Bob Dylan die Auszeichnung. Für die einen war dies eine nachvollziehbare Entscheidung, da Dylan der „brillante Erbe einer Barden-Tradition“ ist, wie es Salman Rushdie ausdrückte. Und Musikerkollege Tom Waits sagte: „Es ist ein großartiger Tag für Literatur und für Bob, wenn ein Meister in seiner originalen Form gefeiert wird. Noch bevor epische Geschichten und Gedichte niedergeschrieben wurden, wurden sie vom Wind der menschlichen Stimme weitergetragen. Und keine Stimme ist großartiger als die von Dylan.“
Doch für die anderen war die Entscheidung weniger nachvollziehbar. „Gelegentlich erlaubt sich die Akademie ein ‚Späßken‘. Die Auszeichnung von Bob Dylan ist genauso ein Witz, wie es die von Dario Fo war. Am besten, man lacht mit“, sagte Literaturkritiker Denis Scheck. Und Schriftsteller Irvine Welsh ätzte: „Ich bin ein Dylan-Fan, aber dies ist ein schlecht durchdachter Nostalgie-Preis, herausgerissen aus den ranzigen Prostatas seniler, sabbernder Hippies.“
Arno Schmidt sah „Stigma der Mittelmäßigkeit“
Die Diskussionen um Handke und Dylan waren aber nicht die einzigen Skandale und Skandälchen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass immer wieder mit Kritik und Unverständnis auf Entscheidungen des Nobelpreiskomitees reagiert wurde. So kann auch am Donnerstag wieder ein Sturm der Entrüstung über die zumeist beschauliche Literaturlandschaft hinwegfegen, wenn der in den Augen mancher Beobachter „falsche“ Schriftsteller oder die „falsche“ Schriftstellerin gewinnt.
Arno Schmidt polemisierte 1950 gegen die Entscheidung, den Preis an „Ben Hur“-Autor Henryk Sienkiewicz zu vergeben – und sagte, man hätte ihn dann auch gleich Karl May verleihen können. Er sah die Träger des Preises mit einem „Stigma der Mittelmäßigkeit“ gezeichnet. Mit Unverständnis wurde auch auf die Preisverleihung an Pearl S. Buck (1938), Dario Fo (1997) und den Chinesen Gao Xingjian (2000) reagiert.
Der Philosoph und Dramatiker Jean-Paul Sartre lehnte 1964 die Auszeichnung ab. Er begründete es mit den Worten: „Ein Schriftsteller, der politisch oder literarisch Stellung nimmt, sollte nur mit den Mitteln handeln, die die seinen sind – mit dem geschriebenen Wort. Alle Auszeichnungen, die er erhält, können seine Leser einem Druck aussetzen, den ich für unerwünscht halte. Es ist nicht dasselbe, ob ich ‚Jean-Paul Sartre‘ oder ‚Jean-Paul Sartre, Nobelpreisträger‘ unterzeichne.“
Abgelehnt hatten zuvor den Preis nur zwei Autoren: 1925 nahm George Bernard Shaw das Preisgeld allerdings an und verschenkte es an eine englisch-schwedische Literaturstiftung. 1958 wurde der russische Schriftsteller Boris Pasternak von der sowjetischen Regierung zum Verzicht gezwungen.
15 deutschsprachige Autoren erhielten den Literaturnobelpreis
Der erste Nobelpreis ging 1901 an den französischen Lyriker und Philosophen Sully Prudhomme. Bisher erhielten 15 deutschsprachige Autoren den Literaturnobelpreis, darunter Thomas Mann, Heinrich Böll, Günter Grass, Elfriede Jelinek und Herta Müller.
Literaturkritiker Denis Scheck kann sich auch in diesem Jahr einen deutschsprachigen Preisträger vorstellen: „Da möchte ich an Martin Walser erinnern“, sagt Scheck. Der Schriftsteller vom Bodensee ist in diesem Jahr stolze 94 Jahre alt geworden. „Er hat natürlich ein titanisches Werk“, ist Scheck begeistert. „Walser zu unterschätzen ist immer ein Fehler.“ Man müsse sich aber auch immer vor Augen führen, dass große Literaten wie Franz Kafka, James Joyce und Marcel Proust den Preis niemals bekommen haben – obwohl sie ihn alle verdient gehabt hätten.
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Leben und Lebenswerk: Martin Walser schreibt seit mehr als 60 Jahren Romane – und mischt sich immer wieder in aktuelle Debatten ein.
© Quelle: dpa
Scheck hat aber auch andere Favoriten auf dem Zettel: „Thomas Pynchon wäre der Autor, dem ich den Preis am meisten gönnen würde“, sagte Scheck. Der 84 Jahre alte US-Schriftsteller habe mit bedeutenden Werken wie „Gravity‘s Rainbow“ („Die Enden der Parabel“) den größten Beitrag zur Literatur geleistet.
Wettbüros sehen Mircea Cartarescu und Annie Ernaux vorn
Bei Scheck fällt aber auch ein Name, der immer wieder im Spiel ist: Margaret Atwood. Auch Anne Carson sei eine würdige Kandidatin, aber Atwoods Bedeutung halte er für noch überragender, sagt der Literaturexperte. Die Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels von 2017 sei nicht nur eine „wunderbare Essayistin und formvollendete Lyrikerin“, sondern habe auch mit ihren Romanen großartige Arbeit geleistet. Wa Thiong‘o hätte es laut Scheck auch verdient, der Somalier Nuruddin Farah ebenfalls. Wie immer fällt aber in diesem Jahr bei der Frage nach dem möglichen Preisträger auch wieder der Name von Haruki Murakami.
Die Wettbüros haben vor allem die üblichen Verdächtigen im Visier: Kurz vor der Bekanntgabe schoben sich auch der Rumäne Mircea Cartarescu und die Französin Annie Ernaux in den engeren Favoritenkreis hinein. Ansonsten werden Murakami, der Russin Ljudmila Ulitzkaja, Carson, Wa Thiong‘o sowie Atwood und Maryse Condé aus dem französischen Überseegebiet Guadeloupe wieder die besten Chancen ausgerechnet. Pynchon findet sich dort zumindest im erweiterten Favoritenkreis.
Wer es am Ende wird, erfahren wir am Donnerstag um 13 Uhr. Dann öffnet sich im prunkvollen Börsenhaus in der Stockholmer Altstadt Gamla Stan eine schwere Tür, ehe die Schwedische Akademie den entscheidenden Namen nennt. (mit dpa)