Der ewige Kinorevolutionär: Jean-Luc Godard ist tot
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Der Bilderflut etwas entgegensetzen: Jean-Luc Godard, französisch-schweizerischer Regisseur und Drehbuchautor.
© Quelle: Christof Schuerpf/epa/dpa
Im ziemlich hohen Alter hat Jean-Luc Godard mal gesagt: „Alle Filme, die ich in den letzten Jahren gemacht habe, muss man dreimal schauen, um sie zu verstehen.“ Der französisch-schweizerische Regisseur wusste, dass dies kaum jemand tun würde. Aber das scherte ihn nicht. Unbeirrt setzte er der allgegenwärtigen Bilderflut auf Handys und Überwachungskameras seine philosophischen Verdichtungen über Kriege, Hass und die Rolle der Menschen bei alledem entgegen.
Godard wirkte gegen Ende seines langen Lebens daheim am Genfer See am eigenen Videoschnittplatz wie eine altersweise Sphinx. Einer zusammenschmelzenden Kinogemeinde gab er in seinen aus Fundstücken im Internet oder aus Passagen des eigenen Werks zusammengestellten Essayfilmen schier unlösbare Rätsel auf.
Seine letzten Filme fanden außerhalb Frankreichs kaum mehr Beachtung („Notre Musique“, „Film Socialisme“, „Adieu au langage“). Aber das schmälert seine immense Bedeutung innerhalb der Kinogeschichte nicht: Nun ist Godard im Alter von 91 Jahren gestorben.
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Schon früh hatte Godard begonnen, dem Kino zu misstrauen. Er wehrte sich dagegen, Filme wie gutes Essen zu konsumieren. Zeit seines Lebens verweigerte er sich dem System Kino. Das machte Godard zum großen Einsamen unter den Regisseuren, darin vergleichbar vielleicht nur noch mit seinen beiden amerikanischen Kollegen Stanley Kubrick und Terrence Malick. Und es machte ihn zum unermüdlichen Kinorevolutionär.
Zu einem der einflussreichsten Regisseure wurde Godard 1960, als er für die Dreharbeiten von „Außer Atem“ die Filmstudios verließ und auf die Pariser Straßen ging. Über seine Anfänge sagte er: „Ich habe Filme gemacht wie ein Jazzmusiker: Man gibt sich ein Thema vor, man spielt, improvisiert – und irgendwie organisiert sich alles.“
Godard, der 1930 geborene Sohn eines Schweizer Arztes, hatte als Filmkritiker bei der von ihm mitbegründeten Filmzeitschrift „Cahiers du Cinéma“ begonnen. In den Fünfzigern gehörte er zu jenen Kinofanatikern, die den lieben langen Tag in der Cinématheque Française in Paris hockten, Filme einsaugten und lange Analysen darüber verfassten.
Kino und Revolution
Das französische Filminstitut sollte zu einem Vorposten der Mai-Unruhen von 1968 werden. Die Menschen gingen fürs Kino auf die Straße, als Cinématheque-Leiter Henri Langlois entlassen werden sollte. Kino und Revolution: Das musste Godard gefallen.
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Er träumte schon damals von einem anderen Kino. Dann wechselte er hinter die Kamera und inszenierte dieses andere Kino: Mit Éric Rohmer, Claude Chabrol, François Truffaut und all den anderen Nouvelle-Vague-Revolutionären erzählte er in den Sechzigerjahren Geschichten von Liebe, Verrat und Tod.
Der Gangsterfilm „Außer Atem“ mit Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo ist heute ins kollektive Kinogedächtnis eingegangen, bedeutete damals aber einen Bruch mit Sehgewohnheiten. Die Hommage an den amerikanischen Film noir – mit einem sich zankenden, liebenden, rauchenden Paar im Mittelpunkt – entstand mit Handkamera und natürlichem Licht. Godard wollte das Leben einfangen.
Godards Abrechnung mit dem kommerziellen Kino
Der von ihm quasi erfundene Jump-Cut ist heute selbstverständlich: In Dialogszenen verlaufen Sprache und Bildmontage asynchron – und nicht in der üblichen Schuss-Gegenschuss-Montage. Die Lücken musste das Publikum selbst füllen. Damals unterstellte man Godard, er sei sich seiner künstlerischen Mittel nicht sicher gewesen. Dabei wusste er genau, was er tat – und hatte noch einen weiteren Grund für seine unkonventionelle Schnitttechnik: Er musste seinen Film stark kürzen.
„Die Verachtung“ (1963), nur drei Jahre später mit Brigitte Bardot und Michel Piccoli in seiner ersten Hauptrolle gedreht, war ein Film über das Filmemachen – und eine Abrechnung mit der Kommerzialisierung des Kinos. Den ökonomischen Zwängen sah er sich damals selbst ausgesetzt.
Die Produzenten wollten mehr von „BB“, Godard musste eine Szene nachdrehen. Voller Sarkasmus bediente er die Voyeuristen: Er legte Bardot bäuchlings und nackt auf ein zerwühltes Bett und ließ sie gegenüber ihrem Geliebten (Piccoli) säuseln, was der mehr liebe. Ihre Brüste? Ihre Schenkel? Den Hintern? Den Mund? Der Geliebte antwortet nur: Ja, ja, ja. Um dann zu verschwinden.
„Wahrheit 24-mal in der Sekunde“
Und dann der Film „Weekend“ (1967) mit einer unendlich langen Kamerafahrt auf einer Landstraße inmitten einer Kakophonie aus Hupen und Geschrei: Staus, Massenunfälle, gewalttätige Anhalter, Blut auf den Straßen. Die Bourgeoisie fährt sich in ihren Autos schrottreif.
Dann folgt der Schlusstitel im Film: „Fin du cinéma“, das Ende des Kinos. Mit dem hat sich Godard dann doch nie abfinden wollen. Wie auch? „Film ist die Wahrheit 24-mal in der Sekunde“, hieß es schon 1960 in seinem Film „Der kleine Soldat“ .
Godard machte einfach immer weiter mit seiner persönlichen Rebellion – und hängte sich 1968 mit François Truffaut an den Kinovorhang in Cannes, um das Filmfestival abzubrechen – bei einer Premiere von Carlos Sauras „Peppermint Frappé“, der sich solidarisch ebenfalls in den Vorhang krallte. Ein bürgerlicher Künstler wollte Godard fortan nicht mehr sein. Für ihn war und blieb der Kinosaal ein Denkraum.
Er gründete die nach dem sowjetischen Filmemacher genannte Groupe Dziga Vertov und verschwand erst einmal im Kollektiv. Vorrangig arbeitete er damals mit der neuen Videokamera, viel später experimentierte er mit 3-D. Konventionelles Kino, diese „Nebenbranche der Lügenindustrie“, interessierte ihn nicht. Ein berühmtes Bonmot von ihm lautete, er wolle „nicht politische Filme, sondern Filme politisch machen“.
In den Achtzigern drehte er noch ein paar Spielfilme, etwa „Rette sich, wer kann (das Leben)“ (1980, mit Isabelle Huppert) über Menschen, die ihr Leben radikal ändern wollen. Dann wurden seine Werke immer unzugänglicher. In „Histoire(s) du cinéma“ (1998) setzte er sich sein eigenes Jahrhundert Filmgeschichte zusammen. Zu sehen erstmals auf der documenta in Kassel.
In Cannes blieb er ein hofierter Regisseur, ließ sich selbst aber gar nicht mehr blicken. 2018 ließ er sich in seiner eigenen Pressekonferenz über Facetime auf dem Handy seines Produzenten zuschalten und kommentierte seinen Film „Le livre d‘image“ (Das Buch der Bilder).
Mit unvermeidlicher Zigarre in der Hand verkündete er vom Genfer See: Er habe Ton und Bild voneinander trennen wollen – womit er die Synchronisation von beidem mal eben über Bord warf. Und dann bemerkte er noch: Die wahren Cineasten seien Anarchisten. Damals war auch die 2019 gestorbene Agnès Varda in Cannes, die letzte Mitstreiterin aus den Zeiten der Nouvelle Vague.
Hollywood meinte, Godard 2011 einen Oscar fürs Lebenswerk verleihen zu müssen. Selbstverständlich holte er die Trophäe nicht persönlich ab. Seine Begründung: Die Mitglieder der US-Filmakademie hätten doch sowieso keinen Film von ihm gesehen.
Es mag ja sein, dass die Kinobranche irgendwann von Godard nicht mehr viel wissen wollte. Godard aber wollte immer noch etwas vom Kino wissen.