„Der ewige Brunnen“

Reim ist mein ganzes Herz: Warum Lyrik so viel Freude macht

Nur keine Angst: Lyrik muss niemanden einschüchtern.

Nur keine Angst: Lyrik muss niemanden einschüchtern.

Hannover. Vom kleinen Kobold Pumuckl konnte man so einiges lernen. Vor allem ein Sinnspruch des rothaarigen Wirbelwinds ist im Gedächtnis geblieben: „Ui, das reimt sich“, sagte er gern, „und was sich reimt, ist gut!“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Ob dieser Spruch bis ins letzte Detail stimmt, darauf kann sich jeder selbst einen Reim machen. Aber zumindest schimmert hier noch die hohe Bedeutung von Gedichten und Lyrik durch. Generationen von Schülerinnen und Schülern haben im Deutschunterricht Schillers „Lied von der Glocke“, Fontanes „John Maynard“ oder Eichendorffs „Mondnacht“ auswendig gelernt. Der Schauspieler Bjarne Mädel erzählte kürzlich, dass sein Großvater zu jeder Lebenssituation einen passenden Vers von Wilhelm Busch zitieren konnte.

Die bekannteste Gedichtsammlung der Nachkriegszeit ist Ludwig Reiners’ Anthologie „Der ewige Brunnen“. Seit Jahrzehnten steht dieses Buch in den Regalen zwischen Goethe und Schiller, später zwischen Enzensberger und Bachmann und heute neben Edelbauer und Süskind. Der Literaturwissenschaftler Dirk von Petersdorff hat sich das Buch für eine Neuauflage nun vorgenommen und rund 500 Werke ausgetauscht.

Langschläfer Morgenlied

Der Wecker surrt. Das alberne Geknatter / Reißt mir das schönste Stück des Traums entzwei. / Ein fleißig Radio übt schon sein Geschnatter. / Pitt äußert, daß es Zeit zum Aufstehn sei. / Mir ist vor Frühaufstehern immer bange. / … Das können keine wackern Männer sein: / Ein guter Mensch schläft meistens gern und lange. / – Ich bild mir diesbezüglich etwas ein … / Das mit der goldgeschmückten Morgenstunde / Hat sicher nur das Lesebuch erdacht. / Ich ruhe sanft. – Aus einem kühlen Grunde: / Ich hab mir niemals was aus Gold gemacht. / Der Wecker surrt. Pitt malt in düstern Sätzen / Der Faulheit Wirkung auf den Lebenslauf. / Durchs Fenster hört man schon die Autos hetzen. / – Ein warmes Bett ist nicht zu unterschätzen … / Und dennoch steht man alle Morgen auf. / Von Mascha Kaléko

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

„Der Verlag C. H. Beck hatte den Eindruck, den ‚Brunnen‘ mal wieder erneuern zu müssen. Man merkt schließlich, wie sehr sich die Welt um uns herum verändert, manche Gedichte sind veraltet. Da ist ein Prozess der Erneuerung ganz normal“, sagt von Petersdorff im Gespräch. Für ihn sei es ein Traum gewesen, dieses Buch neu herausgeben zu dürfen.

Der „Ewige Brunnen“ hat ein ganz eigenes Ordnungsprinzip. Die Gedichte erscheinen nicht in chronologischer Folge, sondern in Themenbereichen – „Jugend“, „Höhen und Tiefen der Liebe“, „Aus dem Alltag“, „Gedanken an den Tod“ sind nur einige Beispiele. Und so steht dann Udo Lindenberg neben Oswald von Wolkenstein, dem Südtiroler Dichter aus dem frühen 15. Jahrhundert, oder Ingeborg Bachmann neben dem Frühaufklärer Barthold Heinrich Brockes. Und nicht nur einmal fallen über lange Zeitstrecken Parallelen auf. Das Staunen über eine erstarrte und scheiternde Liebe ist in Judith Holofernes’ Songgedicht „Denkmal“ genauso groß wie in Erich Kästners „Sachlicher Romanze“. Liebe (und alles, was damit zusammenhängt) kennt halt keine Grenzen, auch keine zeitlichen. Die Idee, einen Gedichtband nach Themen zu sortieren, gehe bereits auf Goethe zurück, betont von Petersdorff. „Er hat diese Idee allerdings niemals umgesetzt.“

Das Zahnweh

Das Zahnweh, subjektiv genommen, / ist ohne Zweifel unwillkommen; / doch hat’s die gute Eigenschaft, / dass sich dabei die Lebenskraft, / die man nach außen oft verschwendet, / auf einen Punkt nach innen wendet / und hier energisch konzentriert. / Kaum wird der erste Stich verspürt, / kaum fühlt man das bekannte Bohren, / das Rucken, Zucken und Rumoren – / und aus ist’s mit der Weltgeschichte, / vergessen sind die Kursberichte, / die Steuern und das Einmaleins, / kurz jede Form gewohnten Seins, / die sonst real erscheint und wichtig, / wird plötzlich wesenlos und nichtig. / Ja, selbst die alte Liebe rostet – / man weiß nicht, was die Butter kostet – / denn einzig in der engen Höhle / des Backenzahnes weilt die Seele, / und unter Toben und Gesaus / reift der Entschluss: Er muss heraus!! – / Von Wilhelm Busch

Die Gründe, warum sich der neue Herausgeber gegen so manches Gedicht entschieden und dafür neue in den „Brunnen“ aufgenommen hat, sind vielfältig. „Zum einen geht der Kern des Buches immer noch auf die Fünfzigerjahre zurück. Und das waren damals nun einmal ganz andere Zeiten mit ganz anderen Geschmacksnerven.“ Das gilt nicht zuletzt für das Politische: „In der ersten Auflage waren noch recht viele Gedichte von Autoren zu finden, die – sagen wir es so – dem Nationalsozialismus nicht ganz ablehnend gegenüberstanden. Es wurden allerdings schon einige politisch problematische Gedichte von meinem Vorgänger in der Herausgeberschaft, Albert von Schirnding, ausgetauscht.“

Auch bei anderen Themenbereichen hat Dirk von Petersdorff überprüft, ob die Gedichte noch in unsere Zeit passen. „Etwa bei Fragen wie: Wie reden Männer über Frauen? Oder: Passt die Art des Humors noch in unsere Zeit? Oder: Es gab früher Gedichte, bei denen man ein Rätsel lösen musste. Das war vielleicht mal eine gute Idee, aber auch das schien mir heute nicht mehr passend.“ Zudem sei der 1896 geborene Reiners noch stark von der Lyrik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geprägt gewesen. Daher sei diese Epoche enorm überrepräsentiert gewesen. Auch da hat von Petersdorff Hand angelegt.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige


Neu aufgenommen hat der 57-Jährige, der selbst Gedichte schreibt und veröffentlicht, auch Songtexte. Neben Judith Holofernes und Udo Lindenberg finden sich unter anderem die Comedian Harmonists, Hildegard Knef oder Element-of-Crime-Sänger Sven Regener mit eigenen Werken. Wenn man sich die Geschichte der Lyrik anschaut, ist das nur konsequent, letztlich schließt sich ein Kreis. Gedichte wurden in der Frühzeit oft gesungen. Lyrik und Lagerfeuer gehörten zusammen wie Pumuckl und Meister Eder. Nicht zuletzt zeigen sich diese Ursprünge am Begriff der Lyrik, der sich vom altgriechischen „lyrike poiesis“ ableitet – und die Dichtung beschreibt, die zum Spiel der Lyra gehört. Aus dem Wort „Lyra“ hat sich dann im Deutschen die Leier abgeleitet, ein Instrument also, mit dem sich wunderbar Gedichte musikalisch begleiten lassen. Nicht zuletzt heißen Songtexte im Englischen „lyrics“.

Im Gegensatz zur manchmal etwas sperrig und unzugänglich wirkenden zeitgenössischen Welt der Gedichte sind Songtexte so einladend, wie es früher ein Goethe- oder Heine-Poem war. „Vieles von dem, was früher Gedichte geleistet haben, haben tatsächlich sehr stark Songschreiber übernommen“, findet auch Dirk von Petersdorff, der Neuere deutsche Literatur an der Universität Jena lehrt. „Wenn man etwa in ein Konzert von Udo Lindenberg geht, singen die Menschen zwei Stunden lang sämtliche Texte von vorne bis hinten mit, die kennen das alles auswendig. Man kann sagen: Volkslieder schreibt in unserer Zeit Udo Lindenberg. Und auf der anderen Seite haben wir heute eine andere Art von Lyrik, eine sehr ernsthafte, sprachlich verrätselte, die dann zu wenig Kontakt zu größeren Kreisen hat.“

Von Brentano bis Bachmann, von Luther bis Lindenberg: Dirk von Petersdorff hat den Band „Der ewige Brunnen“ überarbeitet.

Von Brentano bis Bachmann, von Luther bis Lindenberg: Dirk von Petersdorff hat den Band „Der ewige Brunnen“ überarbeitet.

Die für den „Ewigen Brunnen“ ausgewählten Gedichte können auf vielen Ebenen sehr ehrliche und einfache Freude bringen, sie können Gedanken anstupsen, an das Schöne in der Welt erinnern oder rühren, aber auch handfeste Lebenshilfe leisten. Wer den Tod eines geliebten Menschen verarbeiten muss, dem helfen vielleicht Zeilen wie die von Franz Werfel aus seinem Gedicht „Nach dem Tode“: „Vielleicht ist unsre Seele dann / Das Kind, dem sonntags nach dem Bade / Die Mutter Wäsche bringt frisch aus der Lade / Und zieht ihm Hemd und Strümpfe an.“

Wer krank im Bett liegt, hat in Emmy Hennings eine Leidensgenossin, die sich vom Krankenhaus in den Tanzsaal träumt mit Zeilen wie: „Alle Herbste gehn an mir vorüber / Krank lieg ich im weißen Zimmer / Tanzen möchte ich wohl lieber / An die Geigen denk ich immer / Und es flimmern tausend Lichter. / O wie bin ich heute schön!“ Und wer gegen seine schlechte Laune anlesen will, dem helfen vielleicht Zeilen wie jene aus den Klapphornversen: „Zwei Knaben machten sich den Jokus / und tranken Most im Keller, / da mußten beide auf den Lokus. / Jedoch der Most war schneller.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Lyrik ist die emotionalste Form der Literatur

Natürlich lässt sich auch in diesem Buch wie in jeder Anthologie, bei jeder Auswahl, fragen: Warum fehlt dieses oder jenes Gedicht? Aber eine Auswahl zu treffen heißt immer auch auszuschließen und wegzulassen. Dirk von Petersdorff, der betont, sich bei seinen Entscheidungen für oder gegen einzelne Gedichte auch bei anderen Menschen Rat geholt zu haben, hat den traditionsreichen Lyrikschatz von Reiners gehoben und neu poliert. „Ich war überrascht, bei wie vielen Menschen der ‚Ewige Brunnen‘ früher im Bücherregal stand, und wie viele eine Beziehung zu diesem Buch haben“, sagt er. „Und ich habe natürlich die Hoffnung, dass durch die Neuauflage wieder viele Leute mit Gedichten in Berührung kommen und sagen: Hey, das ist ja etwas, das Freude bereiten kann, das zum Nachdenken anregt, das mich traurig machen oder wie auch immer bewegen kann.“

Lyrik ist noch immer die emotionalste Form der Literatur. Sie kommt den Menschen oft näher als vieles andere schriftlich Verfasste. Vielleicht hat Franz Werfel recht, wenn er schreibt: „Der Reim ist heilig. Denn durch ihn erfahren / wir tiefe Zwieheit, die sich will entsprechen. / Sind wir nicht selbst mit Aug-, Ohr-, Lippenpaaren / gepaarte Reime ohne Klang-Gebrechen?“

Lyrik aus zwölf Jahrhunderten: Gerade ist die neue Fassung von "Der ewige Brunnen" erschienen.

Lyrik aus zwölf Jahrhunderten: Gerade ist die neue Fassung von „Der ewige Brunnen“ erschienen.

Dirk von Petersdorff (Hg.): „Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten“. C. H. Beck, 1167 Seiten, 28 Euro

Mehr aus Kultur

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Outbrain UK Ltd, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken