Vom „Komet“, der in den Charts einschlug: die erste Nummer-eins-Single für Udo Lindenberg
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Zwei machen zusammen eine Eins: Rapper Apache 207 (links) und Rocker Udo Lindenberg sind mit ihrem ersten gemeinsamen Song „Komet“ auf dem Spitzenplatz der deutschen Singlecharts gelandet.
© Quelle: Tine Acke/Warner Music/dpa
„Und wenn ich geh, dann so, wie ich gekommen bin“, leitet Rapper Apache 207 den Refrain des Songs ein, „wie ein Komet, der zweimal einschlägt.“ Und dann kommt die unverwechselbare, wohl berühmteste Näsel- und Quengelstimme der deutschsprachigen Rockmusik und es geht im Zwiegesang weiter: „Vielleicht tut es weh, doch will auf Nummer sicher geh’n / dass ich für immer leb’, lass uns nochmal aufdreh’n“, singen Apache 207 und – Udo Lindenberg.
Dieser beim ersten Hören etwas verschwurbelte Song über Abschied und Bleibenwollen heißt „Komet“ und zog am Freitag an Miley Cyrus’ „Flowers“ vorbei auf den Spitzenplatz der deutschen Singlehitparade.
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Im Alter von 76 Jahren, 53 Jahre nach seinem Debütalbum „Free Orbit“, landete Lindenberg nun also seinen allerersten Nummer-eins-Hit. Noch immer gilt 2023: „Der Greis ist heiß“ – so hieß ein Song von seinem Comeback-Album „Stark wie zwei“ (2008). Im Rock ’n’ Roll laufen die Dinge wieder einmal anders: Der Rockdinosaurier wird vom „Komet“ gekürt statt gekillt.
Rocksenioren landen Tophits – zuweilen passiert das in den deutschen Charts
Dass Leute in recht fortgeschrittenem Alter noch einmal einen solchen Tophit landen, kommt vor. Man denke an „Living in A Ghost Town“ – der Lockdown-Song der Rolling Stones schaffte es im Juni 2020 an allen Deutschrappern und Betroffenheitspoppern vorbei bis an den deutschen Chartsgipfel. Und es wurde konnotiert, dass dieses Reggaerock-Stück die erste Nummer eins der als „dienstälteste Rock-’n’-Roll-Band der Welt“ apostrophierten Londoner Legenden hierzulande seit „Jumping Jack Flash“ von 1968 war.
Als Mick Jagger vor nunmehr 55 Jahren davon sang, an der „Kreuzung von zwei Hurrikanen geboren“ zu sein, spielte der damals völlig unbekannte Udo Lindenberg übrigens noch Schlagzeug bei der Hamburger Folkband City Preachers.
Das Nummer-eins-Hitgedächtnis ist trügerisch
Komisch, dass man sich an Erfolge falsch erinnert. Man hätte Stein auf Bein geschworen, dass es zumindest die Stones-Songs „Honkytonk Women“, „Miss You“ und „Start Me Up“ bis ganz nach oben geschafft hatten. Ähnlich mäßig funktioniert das Lindenberg-Hit-Gedächtnis. War nicht zumindest seine Honecker-Veralberung „Sonderzug nach Pankow“ (1983) zur Melodie von Glenn Millers Big-Band-Nummer „Chattanooga Choo-Choo“ eine Eins gewesen? Oder sein Hoffnungsseufzer von 1986, es gehe mit der Liebe hinterm „Horizont“ immer weiter? Oder sein friedensbewegtes Duett „Wozu sind Kriege da?“, das 1981 auf dem Höhepunkt der Atomkriegsangst entstand – mit dem damals zehnjährigen Sohn Pascal Kravetz seines Keyboarders Jean-Jacques Kravetz als Gesangspartner?
Die Wahrheit: „Pankow“ Platz fünf, „Horizont“ und „Kriege“ jeweils nur Platz 18. Selbst die Unplugged-Version der bittersüßen Dreiminutenromanze „Cello“ hatte 2011 ihren Aufstieg auf Platz vier eingestellt. Erinnerung ist also trügerisch. Das mit den Klassikern der Popmusik funktioniert auch nicht nur über Chartpositionen. David Bowies vielleicht berühmtester Song „Heroes“ hatte es beispielsweise nicht einmal in die Billboard-Hot-100 Amerikas geschafft.
Der Charts-„Komet“ hat ein Gegenstück am Himmel
Vielleicht hat die unverhoffte Nummer eins für „Komet“ ja auch ein bisschen damit zu tun, dass dieser Tage der grün schimmernde „Neandertaler“-Komet C2022/E3 ZTF nach 50.000 Jahren an der Erde vorbeizieht. Ein bisschen ist es bestimmt auch der wehmütig-trotzige Text, wenn überhaupt, dann mit Schmackes abzutreten. Der erste Satz der Kneipeneinsamkeit ist Lindenberg wie auf den Leib geschrieben: „Ich hör’ die Möwen sing’n am Hafen / das letzte Lied zum Rausschmiss / zähl’ schon lang nicht mehr die Jahre / die ich im dichten Rauch sitz’.“
Im Folgenden wird auch mal lyrischer Unsinn verzapft: Das Bild vom zweimal einschlagenden Kometen ist hübsch schief. Aber Meistermetaphorik ist keine Bedingung für einen Nummer-eins-Hit. „Man muss die Leute auf ein Gefühl ziehen“, sagte Lindenbergs Kollege Achim Reichel 1998 in einem Interview mit dem Oldenburger Jugendmagazin „Inside“. Das mache einen guten Song aus. Und der Sound natürlich auch – im Fall von „Komet“ ist es ein recht hipper Genremix aus Pop, Rock und Rap. Ein Lied für alle.
Apache 207 ist zum elften Mal an der Spitze – seine Fans streamen
153 (!!!) Wochen hielt sich ab August 2019 „Roller“ in den Charts, der erste Nummer-eins-Hit von Udo Lindenbergs Gesangspartner Apache 207. Ihm gebührt wohl ein nicht unbeträchtlicher Teil am Erfolg der neuen Lindenberg-Single. Der 25-Jährige, der bürgerlich Volkan Yaman heißt, zählt zu den aktuellen Superstars der Pop-Republik Deutschland und hat Fans, die – anders als Lindenbergs vornehmlich auf physische Tonträger abonniertes älteres Stammpublikum – ihre Heldinnen und Helden deutlich dynamischer per vielfachen Streams auf Spotify, Apple Music und Youtube charten lassen.
Das zeigt die Bilanz: Zwischen 2019 und 2021 hatte der Rapper und Sänger aus Ludwighafen stolze neun Nummer-Einsen unter eigenem Namen – „Komet“ ist bereits seine zweite als Gastsänger.
Der musikalisch immer noch neugierige Lindenberg hatte ein Konzert von Apache 207 besucht und sich danach begeistert geäußert („cooler, schlauer Junge, sehr geflashte Texte, Trademark-Stimme – und singt auch noch mega geschmeidig“). Man traf sich, mochte sich, beschloss, einen gemeinsamen Song zu machen. „Es ist die gegenseitige Hochachtung vor der Kunstform des jeweils anderen, die uns zusammengeführt hat“, erklärte Lindenberg in der Onlineausgabe des Magazins „Musikexpress“. Gestandene Rapper machen durchaus nicht mit jedem Altstar gemeinsame Sache. Mit Lindenberg aber schon. Er sei „ein großes Vorbild“, war von Apache 207 zu hören.
Udo Lindenberg steht am Anfang deutschsprachiger Popmusik
Das ist Lindenberg für viele. Ihm wird unisono das Verdienst zugeschrieben, die deutschsprachige Rockmusik breitenwirksam losgetreten zu haben, wo zuvor nur Volksmusik, Schlager, verschlagerter Rock ’n’ Roll und – in den linken Winkeln der Bundesrepublik – die Band Ton, Steine, Scherben zu hören gewesen waren.
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Die neue weibliche Wut: Wie Sängerinnen Break-up-Songs zu Hits machen
Lied, Liebe und Leid: Das passt einfach zusammen. Nicht umsonst sind Break-up-Songs so beliebt, in denen zuletzt vor allem Sängerinnen selbstbewusst, wütend und teils schonungslos mit ihren Ex-Partnern abrechnen. Was ist ihr Erfolgsgeheimnis?
Mit seinem zweiten deutschsprachigen Album „Alles klar auf der Andrea Doria“ und dem ungewöhnlichen Dixieland-jazzigen Titelsong brachte der gebürtige Westfale die brave Musikwelt deutscher Zunge im Advent 1973 gehörig ins Wanken. Etwas Neues war da in die Welt gekommen, und das Rock-’n’-Roll-Entenhausen, das er mit Figuren wie dem mit dem Teufel verbündeten Opernmaestro „Votan Wahnwitz“, dem Nazi-Geiger „Rudi Ratlos“, dem Rock-Mafioso „Jonny Controlletti“ oder dem unglückseligen Rennfahrer „Riki Masorati“ erfand, war ohnegleichen. Kaum zu glauben, by the way, dass es keiner dieser Kultherrschaften der Siebzigerjahre je auf Platz eins der Singlecharts schaffte.
Gönner und Förderer – für Udo Lindenberg war das Du wichtiger als das Ich
Zudem war der charismatische Entertainer Lindenberg immer auch ein Gönner, dem das Du wichtiger schien als das Ich. Der generöseste unter den Deutschrockern entdeckte unter anderem Ulla Meinecke, förderte die Karriere der Amerikanerin Helen Schneider („Rock ’n’ Roll Gipsy“), nahm die halbvergessene Rockröhre Eric Burdon von der Brit-Bluesband Animals mit auf Tour und bescherte dem „deutschen Elvis“ Ted Herold 1977 mit dem Song „Teddi“ ein Comeback. Und. Und. Und.
Und so standen ihm 2008 bei seiner glücklichen Rückkehr nach 18 eher mauen Jahren auf seinem ersten Nummer-eins-Album „Stark wie zwei“ auch Kolleginnen und Kollegen wie Jan Delay, Silbermond, Annette Humpe, Helge Schneider und Till Brönner zur Seite. Bei der Neueinspielung von „Cello“ teilte sich Clueso den Gesang mit ihm. Achim Reichel erinnerte sich 1998 im Interview an den gemeinsamen Besuch eines Festivals Anfang der Siebzigerjahre, bei dem ihm Lindenberg von seinen Plänen erzählt hatte, künftig deutsch zu singen und rockig zu sein. „Wenn dir das gelingt, dann kann’s sein, dass die Leute dein Leben lang dafür dankbar sind“, habe er ihm geantwortet. Aus Dankbarkeit ist längst genre- und generationsübergreifender Respekt geworden, der 2023 auch zu dem Duett mit Apache 207 führte.
Zuletzt war Panikrocker Lindenberg in Schlagernähe gerückt
Die Kennzeile des Lieds ist Programm. Dass Udo Lindenberg noch einmal aufdreht, registriert man als Fan mit Genugtuung. Die Single davor, „Kompass“, war im Herbst 2021 nicht mal eine Sternschnuppe in den Charts gewesen. Zeilen wie „Auch wenn sich das Chaos wie wild um dich dreht / dein Herz ist dein Kompass und zeigt dir den Weg / Er ist immer da, in jedem Moment / auf diesem Trip, den man das Leben nennt“ waren auch nicht mehr allzu weit weg vom Schlager, dem Udo Lindenberg einst so fulminant den Mittelfinger entgegengestreckt hatte.
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Der „Komet“ dagegen kommt ganz groß raus. 17.240.000 Mal wurde er bis Sonntag bei Spotify gestreamt, 5,5 Millionen Mal wurde das Video bei Youtube aufgerufen. Lindenberg und Apache 207 haben ihrem Hit sogar einen Stern gekauft, der nun unter dem Namen „Komet“ firmiert. Die Koordinaten sind RA: 4h 09m 10.4s DEC; +47º, 46′, 33.0′ im Sternbild Perseus – benannt nach jenem Sohn des Zeus, der in der griechischen Mythologie nach einem langen glücklichen Leben an den Himmel geholt wurde, um dort ewig zu leuchten.
Wohin auch Lindenberg und Apache 207 zu streben scheinen. „Dass ich für immer leb’“, wünschen sie sich im Text. Und ihre Musik macht die beiden immerhin im übertragenen Sinn unsterblich.