Alteingesessen: Ist das Ende der Wegwerfmöbel-Kultur gekommen?
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Klassisch: Hans J. Wegners Wishbone Chair.
© Quelle: imago images/Dennis Gilbert/VIEW
Laut Duden leitet sich das Wort Haus vom althochdeutschen Begriff Hus für „das Bedeckende, Umhüllende“ ab. Zu Hause zu sein bedeutet also auch, es warm und wohlig zu haben. Die eigenen vier Wände sind ein Schutzraum, ein Rückzugsort – der aber heute immer stärker einem öffentlichen Publikum präsentiert wird: In den sozialen Medien inszenieren Privatmenschen ihre Privaträume, als lebten sie im Möbelhaus. Ästhetisch und fotogen muss das Eigenheim sein. Die Ausstattung orientiert sich oftmals danach, was allgemein im Trend liegt. Verloren geht dabei oftmals der Charme des Individuellen. Doch womöglich ist genau das das Trendthema der nächsten Jahre.
Aktuell sieht der Düsseldorfer Innenarchitekt Jens Wendland auch in der Einrichtungsbranche Trendthemen, die auf gesellschaftliche Entwicklungen sowie Lebensstile und Sehnsüchte der Menschen reagieren. Für die Möbelbranche gelten längere Trendzyklen als beispielsweise in der Modeindustrie. Sie dauern über mehrere Jahre an. Zurzeit dominiere vor allem das sogenannte Redesign bei der Einrichtung. Möbeltypen aus zurückliegenden Dekaden werden wieder aufgegriffen. „Interessanterweise geschieht das sehr häufig nicht eins zu eins, sondern eben in zeitgemäßen Interpretationen“, sagt Wendland. Inspirationsquellen seien vor allem die Fünfziger- und Sechzigerjahre.
Möbelstücke sollen heute vor allem lange halten
Die Gesellschaft sehne sich pandemiebedingt nach Beständigkeit und Kontinuität, die sie in diesen Jahrzehnten wiederfinde, glaubt Wendland. Für den Innenarchitekten ist der Architekturstil des sogenannten Mid-century modern aktuell Vorreiter im Möbeldesign: Die Gestaltung ist geprägt von organischen Formen und klaren Linien. Skandinavische Einflüsse spielen eine große Rolle, ebenso die Wertschätzung von Handwerk.
Sorgfalt bei der Auswahl und Verarbeitung der Materialen stehen an oberster Stelle. Auf diese Weise wird auch der bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern wachsende Anspruch nach mehr Nachhaltigkeit bedient. Möbelstücke sollen heute vor allem lange halten. Ist nunmehr das Ende der Wegwerfmöbel-Kultur mit ihren Pressspanprodukten in Sicht?
Altes Handwerk neu aufgelegt
„Es gibt ein bewusstes Aussuchen von inhaltlich wertvollen und wertgeschätzten Gegenständen und somit auch Möbeln“, sagt der Innenarchitekt. Viele Menschen investierten mittlerweile bewusst in Möbelstücke, die sorgfältig designt und verarbeitet seien und somit auch länger hielten. Das Angebot an wertigen Möbeln, die zum Teil nach altem Vorbild handgefertigt sind, wächst beständig. Gemla etwa, die älteste Möbelmanufaktur Schwedens, arbeitet mit dem traditionellen Bugholzverfahren, bei dem Vollholz unter Wasserdampf gebogen wird. Ein Ergebnis gab es jüngst bei der Messe Salone del Mobile in Mailand zu sehen: ein luftig wirkender Sessel, designt vom Briten Samuel Wilkinson, aus Eschenholz mit einer Lehne in Form eines Netzes aus robusten Papierkordeln.
In Sachen „altes Handwerk neu aufgelegt“ hat sich auch das bosnische Familienunternehmen Zanat einen Namen gemacht. Die Möbel aus Walnuss- oder Kirschbaumholz werden mit einer bestimmten, seit Generationen überlieferten Technik bearbeitet: Mit einem Hohlbeitel werden Kerben ins Holz geschnitzt und geschlagen, sodass geometrische Muster entstehen.
Mehr Flexibilität – statt ausmisten
Ein weiteres Highlight der Einrichtungsmesse stammte von Virgil Abloh. Der im vergangenen November gestorbene Ausnahmedesigner lieferte einen kongenialen Beitrag zu einem ebenfalls großen Trend in der Möbelbranche: mehr Flexibilität. Statt ein Möbelstück auszumisten, wenn es nicht mehr gefällt, eröffnen modulare Systeme Möglichkeiten, etwa Sitzgelegenheiten wie Sofas und Sessel, aber auch Schränke und Regale immer wieder in Form und Größe zu verändern. Ablohs Würfel Modular Imagination für die italienische Marke Cassina ist ein Paradebeispiel dafür. Den Würfel aus pflanzenbasiertem mattschwarzem Polymer und wiederverwertetem Holz gibt es in zwei unterschiedlichen Größen. Er kann als Hocker oder Beistelltisch genutzt werden. Wird es mal nicht gebraucht, lässt sich das Objekt komplett zerlegen.
Hochwertige, natürliche und recycelbare Materialien sind nach Ansicht von Bauingenieurin Simone Chrystall, die im Bereich Innenarchitektur arbeitet, für die Zukunft nicht mehr wegzudenken vom Einrichtungsmarkt: „Im hochwertigen Möbelbau ist Echtholz sehr gefragt, das gleichzeitig als Rohstoff sehr rar ist“, sagt sie. Als Qualitätsmerkmal ist für Jens Wendland entscheidend, dass das Material vor allem gut altern kann. Das kommt besonders beim Redesign zum Tragen.
Möbel als Investitionsobjekte
Zwei Ansätze seien in diesem Bereich zu beobachten: die Kopie und die kontinuierliche Optimierung von Originalentwürfen. „Es geht um Originale, die unter einem bestimmten Aspekt weiterentwickelt und neu interpretiert wurden. Es sind trotzdem originale Entwürfe, keine Fakes oder Nachbildungen“, erläutert Wendland.
Designklassiker wie der knautschige Togo-Sessel von Michel Ducaroy oder der Wishbone Chair, auch bekannt als Y-Chair, des Möbeldesigners Hans J. Wegner werden laut Simone Chrystall „absolut wertbeständig“ bleiben. Es sind mittlerweile beliebte Investitionsobjekte. „Diese Dinge werden immer rarer und seltener werden“, ist die Ingenieurin überzeugt. Und Innenarchitekt Wendland empfiehlt: „Wenn es um echte Originale aus den zurückliegenden Jahrzehnten geht, finde ich es spannend, auf die Suche zu gehen, um sich extrem populäre Designer aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren anzuschauen, die danach vergessen wurden.“
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