„Stimmt so“

Wie viel Trinkgeld darf’s denn sein?

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Seattle/Hannover. Eine der eher komplizierteren Randerscheinungen des amerikanischen Way of Life zeigt sich im Alltag gleich an zahlreichen Stellen: im Restaurant, im Hotel, im Taxi und an vielen weiteren Orten. Es ist der gesellschaftliche Konsens, stets ausreichend Trinkgeld zu hinterlassen. Das „Tipping“, wie dieses Ritual im Englischen genannt wird, ist essenzieller Bestandteil des amerikanischen Zusammenlebens. Ohne „Tip“ kein Service – niemand würde das so aussprechen. Aber es schwingt immer mit.

Eine lokale Craft-Beer-Brauerei aus Seattle hat dem Zwang zum Trinkgeld nun den Kampf angesagt. Im Brauereipub von Optimism im hippen Stadtteil Capitol Hill gilt eine „No Tipping Policy“ – Trinkgeld ist untersagt. Stattdessen will das Unternehmen seine Angestellten selbst angemessen bezahlen, wie es betont. Nicht die Gäste sollen indirekt für einen Teil des Gehalts aufkommen müssen – das Ganze wird über die Löhne geregelt.

„No tipping“ in einem amerikanischen Pub

„Wir fühlten uns als Kunden unwohl, als wir gebeten wurden, Trinkgeld zu geben“, erläutert Gay Gilmore, die die Brauerei gemeinsam mit ihrem Mann Troy Hakala gegründet hat. „Wir haben uns deswegen entschieden, einfach unsere Preise zu erhöhen und unseren Angestellten einen verlässlichen, existenzsichernden Lohn zu zahlen.“

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Gilmore ist durchaus zufrieden mit der Resonanz: „Den Kunden gefällt es überwältigend“, resümiert sie. Nur selten bestehe jemand darauf, Trinkgeld zu geben. Und manche ärgerten sich dann sogar, weil sie es nicht dürfen.

Zum Aspekt der gerechten Bezahlung kommt für Gilmore aber vor allem ein weiterer: „Trinkgeld hat eine klassische, rassistische Geschichte“, erklärt sie Kundinnen und Kunden auf ihrer Website. Es sei ein aristokratischer Brauch, der sich in den Vereinigten Staaten erst durchgesetzte habe, als die Sklaverei abgeschafft wurde. „Die Arbeitgeber mochten es nicht, Löhne an neu freigelassene Afroamerikaner zahlen zu müssen, also wurde das Trinkgeld zu ihrer einzigen Einnahmequelle.“

Das „Tipping“ ein anachronistischer Brauch, der die Zweiklassengesellschaft zementiert? Bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts hatte es in den USA Initiativen gegeben, das Trinkgeld abzuschaffen. Doch die verpufften unter dem gesellschaftlichen Druck.

Auch im Taxi gern gesehen: Trinkgeld.

Auch im Taxi gern gesehen: Trinkgeld.

Wie viel Trinkgeld geben die Deutschen?

„Wie viel Trinkgeld würden Sie – bei zufriedenstellendem Essen und Service sowie bei 50 Euro Rechnungssumme – geben?“, fragte das Statistikportal Statista 2019 die Deutschen. 75 Prozent gaben damals an, in solchen Fällen zwischen 2 und 5 Euro zahlen zu wollen, 13 Prozent sogar nur unter 2 Euro. Nur 3 Prozent der Befragten erklärten, generell kein Trinkgeld zu geben. Auch in Deutschland hat sich das „Tipping“ also längst durchgesetzt – nicht nur im Restaurant. Auch im Friseurgeschäft wird oftmals wohlwollend aufgerundet, im Taxi und andernorts.

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In Deutschland sei es üblich, 5 bis 10 Prozent der Rechnungssumme als Trinkgeld zu geben, erläutert Clemens Graf von Hoyos, CEO der Knigge Akademie. In Europa gebe es bei diesen Prozentsätzen jedoch ein starkes Nord-Süd-Gefälle: Während in Skandinavien weniger gegeben werde, sei es in Südeuropa mitunter mehr.

Auch die Art des Trinkgeldgebens sei unterschiedlich, betont Graf von Hoyos: Während man es in Deutschland bewusst gebe, werde es beispielsweise in Italien einfach beim Gehen am Platz hinterlassen. Ist es angebracht, bei schlechtem Service womöglich gar kein Trinkgeld zu geben? „Es ist zumindest nicht wertschätzend, nichts zu geben und es nicht zu begründen“, sagt Benimmexperte Clemens Graf von Hoyos. Aus seiner Sicht sei es der beste Weg, auch in solchen Fällen durchaus Trinkgeld zu hinterlassen, aber zugleich etwaige Mängel beim Service oder ähnlichem anzusprechen. Aus seiner Akademie kommt eine Orientierungshilfe zu diesem Thema: Alles, was ein anderer Gast nicht für mich tun würde, rechtfertigt ein Trinkgeld.

Wenn der Service „wow“ ist

Nachdem sich die Frage nach Trinkgeld während der coronabedingten Lockdowns kaum stellte, wurde es danach umso komplizierter: Selbst kleinste Bars bieten seitdem die Möglichkeit der bargeldlosen Zahlung an, und mit dem neuen System hat auch eine neue Form der Zuwendung Einzug gehalten. Moderne Kartenlesegeräte ermöglichen es inzwischen, direkt auf dem Display einen Prozentsatz der Gesamtsumme als Trinkgeld hinzuzufügen. Meist besteht die Wahl zwischen 10, 15 und 20 Prozent, kreativere Lokale verbinden das jedoch mit der Frage, wie den Gästen der Service gefallen habe: „Gut“ sind da mit einem Trinkgeld von 10 Prozent verbunden, bei „Wow“ werden gleich 20 Prozent fällig. Wer würde sich da mit einem „gut“ begnügen oder womöglich ganz darauf verzichten?

Statista untersuchte 2019 – vor Corona – auch die Auswirkungen der Kartenzahlung aufs Trinkgeld. Die deutliche Mehrheit der befragten Gäste (62,8 Prozent) gab an, dass sie bei der Höhe nicht zwischen Bar- oder Kartenzahlung unterscheide. Nur 10,7 Prozent waren bereit, beim bargeldlosen Bezahlen das Trinkgeld zu erhöhen. Rund 13 Prozent gaben in diesem Fall weniger, weitere 13 Prozent sogar gar kein Trinkgeld.

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Ist das Trinkgeld während der Pandemie aus der Mode gekommen? Im Gegenteil. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey aus dem April 2021 ergab, dass Kundinnen und Kunden in Deutschland nach den Lockdownphasen mehr Trinkgeld als vor der Pandemie gegeben haben. Dabei sind Menschen in großen Städten und Ballungszentren grundsätzlich großzügiger als im ländlichen Raum.

Unterstützung für Gastronomen im Lockdown

Während der monatelangen Lockdowns von März 2020 an hätten viele Menschen die Gastronomen ihres Kiezes mit Bestellungen unterstützt, sagt Ingrid Hartges, Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga). „Auch nach der Wiedereröffnung haben viele Gäste eine große Empathie für unsere Branche gezeigt, sind häufiger gekommen und haben auch definitiv großzügiger Trinkgeld gegeben.“

Die Hotel- und Gastronomieexpertin sieht das Trinkgeld als freiwilliges Dankeschön der Gäste und ein Zeichen der Anerkennung und Wertschätzung für guten Service. „Insofern hat das Trinkgeld auch eine große emotionale, motivierende Komponente für die Angestellten“, betont Hartges.

Die Höhe des Betrages hängt dabei nicht nur von der Zufriedenheit des Gastes ab, sondern oftmals auch von der Rechnungssumme. „Kleinere Beträge werden vielfach großzügiger aufgerundet“, sagt die Dehoga-Hauptgeschäftsführerin. Mehrheitlich liege das Trinkgeld in klassischen Restaurants zwischen 5 und 15 Prozent.

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Auch an anderer Stelle wurden Kunden in der Corona-Zeit großzügiger: bei den Lieferdiensten. Während der Hochphase der Pandemie hätten Kunden in Deutschland mehr Trinkgeld gegeben, erläutert Lieferando-Sprecher Oliver Klug. „Die Leute waren doppelt dankbar, ihr Essen nach Hause geliefert zu bekommen.“ Zu Beginn der Pandemie hatte Lieferando eigens eine Funktion eingeführt, mit der online bargeldlos Trinkgeld an die Lieferanten übermittelt werden kann. „Wir geben das zu 100 Prozent weiter, steuerfrei, und unsere Fahrerinnen und Fahrer freuen sich über Trinkgeld auf jeglichem Wege“, betont Klug.

Trinkgeld als Teil des Arbeitsvertrages

Nach deutschem Steuerrecht gilt Trinkgeld als Einkunft aus nichtselbstständiger Arbeit. Allerdings ist es steuerfrei. In einzelnen Branchen – städtische Betriebe oder einige Paketdienste – ist die Annahme meist verboten. Ganz anders oftmals im Ausland.

Neue Kartenlesegeräte bieten meist die Möglichkeit, das Trinkgeld gleich mit zu bezahlen.

Neue Kartenlesegeräte bieten meist die Möglichkeit, das Trinkgeld gleich mit zu bezahlen.

In den USA und anderen Ländern ist Trinkgeld heute mitunter Bestandteil des Arbeitsvertrages und damit Teil der Bezahlung. Vielfach erreichen Angestellte nur dadurch eine Summe, die dem Mindestlohn entspricht. Beim US-Arbeitsministerium heißt es dazu sogar: „Ein Arbeitgeber eines Mitarbeiters mit Trinkgeld muss nur 2,13 Dollar pro Stunde an direkten Löhnen zahlen, wenn dieser Betrag zusammen mit den erhaltenen Trinkgeldern mindestens dem bundesstaatlichen Mindestlohn entspricht.“ Zahlreiche Staaten verlangten jedoch höhere direkte Lohnbeträge für Arbeitnehmer mit Trinkgeld.

Trinkgeld-Spuren bis ins Mittelalter

Selbst in Großbritannien, wo das Trinkgeld in Pubs verpönt ist und vielfach sogar abgelehnt wird, hat es sich in Restaurants und Taxis längst durchgesetzt. Ohnehin ist nachgewiesen, dass das „Tipping“ dort bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts praktiziert wurde. Der Ausdruck „to insure promptness“ (um Schnelligkeit zu sichern) wird als Herkunft der Abkürzung „tip“ gern zitiert – Sprachforscher bezweifeln jedoch, dass dies wirklich die Grundlage war. Gesichert hingegen ist, dass es das Trinkgeld in Deutschland bereits seit dem Mittelalter gibt. Die Bezeichnung stammt daher, dass man es mit dem Wunsch übergab, der Empfänger möge es auf das Wohl des Spenders vertrinken.

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Ausgerechnet ein Land, das international immer wieder für exzellenten Service gelobt wird, kennt die Tradition des Trinkgelds übrigens gar nicht: In Japan wird es sogar als Beleidigung aufgefasst.

Was Trinkgeld hierzulande wirklich beeinflusst, hat im vergangenen Jahr eine Untersuchung der Hochschule Fresenius Hamburg ermittelt: das Gratisgetränk vor dem Bezahlen. Ein Forschungsteam untersuchte dies damals in einem griechischen und einem deutschen Restaurant, wo zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein Ouzo aufs Haus serviert wurde. Demnach fällt das Trinkgeld am höchsten aus, wenn das Glas zusammen mit der Rechnung auf den Tisch kommt.

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