Sozialstation Untereichsfeld

Ambulante Pflege: „Die Zeit ist immer knapp“

Bevor sie wieder geht, streift Altenpflegerin Simone Kemmling  Frau S. ein Hausnotruf-Band über den Arm.

Bevor sie wieder geht, streift Altenpflegerin Simone Kemmling Frau S. ein Hausnotruf-Band über den Arm.

Waake. In der Dämmerung schleicht ein einsames Schulkind zur Bushaltestelle, in Carports und Garagen starten die Berufstätigen ihre Wagen. Während der morgendliche Pendlerstrom am Ort vorbeirauscht und anschwillt, wird es ruhig in Waake. Zurück im Dorf bleiben die Alten. Nicht nur der Berufsverkehr hat Stoßzeit, auch die ambulante Pflege. Die Patienten müssen versorgt und startklar für den Tag gemacht werden.

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„Die Zeit ist immer knapp, bei Eis und Schnee wird es noch schlimmer“, sagt Simone Kemmling. Die erfahrene Altenpflegerin aus Seeburg fährt auf ihrer Frühtour zwischen Waake, Bösinghausen und Ebergötzen hin und her. Drei Senioren in Ebergötzen hat sie bereits gewaschen und angezogen, von vielen Patienten nummerierte Schlüssel für die Wohnungen dabei.

In Waake steuert die Mitarbeiterin der Caritas-Sozialstation Untereichsfeld eine enge Gasse an. Dort wohnt Herr P. in einem Einfamilienhaus voller Erinnerungen. Neben schwarz-weißen Familienfotos hängen Ölbilder mit Landschaftsmotiven, die Wohnung ist gespickt mit antiquarischen Objekten. Der 77-Jährige sitzt in Unterhose auf dem Sofa mit Blick in den Garten, auf der Fernsehzeitung liegt die Lesebrille, einziges Geräusch ist das Schlagen der Pendeluhr an der Wand. Während der Kaffee durchläuft, misst Kemmling den Blutdruck und legt eine Beinschiene an. Zweimal täglich bekommt P. Besuch von der Sozialstation, ansonsten schaut seine in der Nachbarschaft lebende Schwester nach dem Rechten. Früher hatte der Witwer einen Dackel, hat sich wegen seiner Bewegungseinschränkung aber keinen neuen Hund angeschafft. Mit den Worten "Tschüss – und immer die Tür schön zumachen" verabschiedet sich Kemmling, über deren Besuch sich P. stets freut. Der Ratschlag kommt nicht von ungefähr. Erst vor wenigen Tagen ist P. Opfer eines Haustür-Trickdiebs geworden, der aus der Wohnung eine Pickelhaube und einen Dolch entwendet hat. Leider kein Einzelfall. Die Hilflosigkeit älterer Menschen wird immer wieder ausgenutzt.

Kaum barrierefreie Wohnungen

Zur Grundpflege gehören Waschen und Anziehen

Zur Grundpflege gehören Waschen und Anziehen.

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Einer Zeitreise gleicht der Besuch in vielen Wohnungen, die die Mitarbeiterinnen der Sozialstation ansteuern: Eiche rustikal, Flure mit schweren Vorhängen und Essecken, Wohnküchen, aus der Zeit gefallene Deko-Artikel. Nachdem sie zwei weiteren Patienten Kompressionsstrümpfe angezogen hat, fährt Kemmling weiter zu Frau W. im Ortskern. Die 82-Jährige mit Herzproblemen hat ihre Morgentabletten bereits genommen, steht im Nachthemd auf dem Flur, auf der Kommode liegt die Apotheken-Umschau, daneben steht ihr Rollator. Kemmling zieht sich mit ihr zum Waschen ins Bad zurück, beim Anziehen unterhalten sich die beiden lebhaft. „Ich war schon genug im Krankenhaus“, sagt W. und ist „froh, dass es die Sozialstation gibt und ich zu Hause bleiben kann“. Seit einem Splitterbruch des Sprunggelenks kommt sie die Treppe ihrer Wohnung im Obergeschoss, in der sie mit ihrem behinderten Sohn lebt („Seit 44 Jahren fährt er jeden Morgen über den Berg zu den Göttinger Werkstätten“), nicht mehr alleine hinunter. Die wenigsten Wohnungen sind barrierefrei.

Täglich bis zu 900 Patientenbesuche

Mit einer Handvoll Patienten und Mitarbeitern ist die Sozialstation in Duderstadt vor 40 Jahren gestartet. Heute betreuen sechs Pflegeteams mit 136 Mitarbeitern (darunter nur drei Männer) täglich bis zu 900 Patienten in der Stadt Duderstadt und in den Samtgemeinden Gieboldehausen und Radolfshausen. Mit den 22 Kleinwagen der Sozialstationsflotte werden die entlegensten Dörfer angefahren. Im Einsatz sind Kranken- und Altenpflegerinnen, Pflegeassistentinnen, Pflegekräfte und Hauswirtschafterinnen – überwiegend auf Teilzeitbasis. Neben den Tagespflege-Einrichtungen in Duderstadt und Gieboldehausen betreibt die Caritas in mehreren Orten sogenannte Carena-Gruppen mit stundenweiser Betreuung zur Entlastung pflegender Angehöriger. Für viele allein lebende Senioren, die sonst oftmals nur aus dem Fenster oder auf den Fernseher starren würden, eine willkommene Abwechslung. ku

„Wenn keine Angehörigen mehr da sind, wird es sehr schwierig“, sagt Beate Kracht, Teamleiterin der Sozialstation für die Samtgemeinde Radolfshausen. Die Krankenhäuser würden immer wieder nach freien Kapazitäten fragen, 2019 werde die Duderstädter Sozialstation ein siebtes Team hinzubekommen. Während die Grundpflege (Waschen, Anziehen, Essen, Haushaltsführung) über die Pflegeversicherung abgedeckt wird, bedarf es für die über die Krankenkasse abzurechnende Behandlungspflege mit medizinischen Leistungen wie Port- und Wundversorgung, Infusionen und Injektionen Verordnungen des Hausarztes. Das sei mit hohem Aufwand verbunden, meint Kracht: „In Absprache mit dem Arzt müssen wir aus Not oft schon handeln, bevor der Schein vorliegt.“ Beratungen, die nicht refinanziert würden, seien an der Tagesordnung.

Frau S

Frau S. freut sich über den Besuch von Simone Kemmling (l.) und Beate Kracht.

Für die nächste Patientin muss Kemmling nur über die Straße gehen. Dort erwartet sie Frau S. im Nachthemd auf dem Sofa. „Ich bin sehr zufrieden mit der Sozialstation“, sagt die 88-Jährige, die Operationen an beiden Hüften und eine Krebsbehandlung hinter sich hat: „Die Schwester hat einen schweren, schweren Beruf.“ Nicht alle Patienten sind so fit und freundlich. „Wir haben auch psychisch Kranke mit latenten Agressionen und Demenzkranke, manchmal gibt es Auseinandersetzungen mit schwierigen Angehörigen“, berichtet Kracht. Bevor Kemmling sich von S. verabschiedet, streift sie ihr noch ein Hausnotruf-Band über den Arm – und hofft, dass der Notruf nicht ausgelöst werden muss.

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Ambulante Pflege früher und heute

Fachkräftemangel, Dumpinglöhne freier Anbieter, eine rapide alternde Bevölkerung, Demenz, Leistungskataloge, hoher Dokumentationsaufwand, Streit um Vergütungen und Zeitmanagement. Die ambulante Pflege steht unter Druck. Dass früher alles besser war, ist allerdings ein Trugschluss. Vor Professionalisierung der Pflege gab es andere, aber nicht weniger Probleme – und völlig andere Rahmen- und Lebensbedingungen.

Die Entwicklung der vor 40 Jahren gestarteten Caritas-Sozialstation in Duderstadt – eine der ersten in Niedersachsen – hat Lydia Ballhausen von Anfang an miterlebt und gestaltet. Bis dahin hatten sich im Eichsfeld die Vinzentinerinnen um die häusliche Versorgung alter und kranker Menschen gekümmert. Die Umstellung sei für alle Beteiligten ein schwerer Prozess gewesen, sagt Ballhausen.

Männliche Helfer fehlen

In den 1980er-Jahren traten die ersten Zivildienstleistenden ihren Ersatzdienst bei der Sozialstation an – männliche Unterstützung, die Ballhausen auch heute noch begrüßen würde. In Orten wie Gieboldehausen, Rüdershausen und Bilshausen existierten noch Schwesternstationen, die in die neue Struktur überführt werden mussten. „Versorgen Sie auch Nichtkatholiken?“ sei damals eine häufig gestellte Frage gewesen.

Auch die Scham, sich Unterstützung und Fachpflege zu holen, sei groß gewesen. „Nicht selten wurden wir gebeten, mit einem Auto ohne Aufdruck zu kommen und es um die Ecke zu parken, damit es die Nachbarn nicht mitbekommen“, erinnert sich Ballhausen: „Wir kamen oft in kalte Stuben und haben den Ofen selbst anzünden müssen.“ Warmes Wasser habe es manchmal nur aus der Thermoskanne oder durch Tauchsieder gegeben. Zur schmalen Hilfspalette im Materiallager der Station gehörten Toilettenstühle und Patientenlifter, deren Gerassel Ballhausen mittelalterlich anmutete. Die ersten Krankenbetten konnten ohne Krankenkassen-Zuschuss von den Pflegenden und ihren Angehörigen ausgeliehen werden, entsprechend groß sei das Warenlager gewesen. „Damals waren wir noch weit weg von Hausnotruf, den segenstiftenden Rollatoren und allen modernen Wundversorgungen, dafür kamen noch Zinkleimverbände, Inhalatoren und wärmende Bettbogen zum Einsatz“, berichtet Ballhausen, die heute das Lorenz-Werthmann-Haus für Senioren in Duderstadt leitet.

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Professionelle Hilfe und Palliativmedizin

In den 1990er-Jahren habe es erhebliche Fortschritte und eine Professionalisierung im Bereich der Schmerzbekämpfung und Palliativmedizin gegeben, Pflege sei mehr und mehr zum Markt geworden. Was nicht professionell zu leisten war, wurde ins Ehrenamt verlegt. In dieser Zeit wurde auch der Hospizverein Eichsfeld gegründet, die Zunahme von Demenzerkrankungen sorgte für neue Herausforderungen. Vieles sei ohne bürgerschaftliches Engagement nicht zu stemmen, meint Ballhausen, hebt ihr christliches Selbstverständnis als Orientierung und Motivation hervor, fordert Respekt und Wertschätzung für die Pflegeleistenden ein. „Wir kennen schwierige Lebensumstände und Wohnsituationen – aber auch Einsamkeit trotz Reichtums.“

Nicht alle Defizite könnten durch die ambulante Pflege wettgemacht werden. „Heute müssen wir – wie vor 40 Jahren – Leistungen zeitlich und inhaltlich beschränken“, sagt Ballhausen: „Anders als 1978 werden aber durch Internet und soziale Systeme Bewertungen vorgenommen.“ Verantwortliches Handeln sei komplexer geworden – und bei allem spreche der Markt ein gewichtiges Wort mit.

Von Kuno Mahnkopf

GT/ET

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