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Kunstmarkt

1970 erfunden, lange ein Spektakel

Kunst für Jedermann: Die Ausstellungen wurden rund um die Stadthalle gezeigt.

Kunst für Jedermann: Die Ausstellungen wurden rund um die Stadthalle gezeigt.

Göttingen. Konrad Schilling war ein impulsiver Mann, jemand, der Menschen mitreißen, stellenweise auch unbequem sein konnte. So beschreibt ihn einer, der ihn kannte: Joachim Kummer, langjähriger CDU-Politiker und 20 Jahre lang, von 1982 bis 2002, Kulturdezernent der Stadt. 1970 hatte Schilling dieses Amt inne (Mitte der 70er verließ er Göttingen), und damals setzte er sich in den Kopf, das Konzept eines Kunstmarktes, das er in anderen Städten kennengelernt hatte, nach Göttingen zu holen.

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"Ins leicht dröge Göttingen", wie Kummer bemerkt. Er blickt zurück, auf jene Jahre, in denen die Idee war, Kunst zu "demokratisieren". In seiner Wohnung im Ostviertel zwischen vielen Büchern, schweren Möbeln, Porzellan. Wo sich viel angesammelt hat im Lauf der Jahre. 
In den 70ern wollte man "weg vom Elitären", sagt Kummer: Raus aus den Galerien, dem Künstlerhaus, weg von dort, wo immer derselbe Personenkreis anzutreffen war und sich manche andere gar nicht erst hintrauten. Auf dem mehrtägigen Kunstmarkt wurden die Werke mitten in der Stadt gezeigt. Die Ausstellung war mit einem Rahmenprogramm verbunden, zu dem neben Live-Musik und Lesungen durchaus auch der Bierausschank gehörte.

Und ins Gespräch kommen wollte man. Die Künstler, so Kummer, sprachen auf Begleitveranstaltungen mit dem Publikum und mit Schulklassen – zum Beispiel darüber, wie sie ihre Werke verstanden wissen wollten. Der Kunstmarkt wollte, in den Worten Schillings, „den Blick der Bürger für die Qualität von Kunstwerken (...) schärfen“, „sein Bewußtsein (...) wecken, sich mit (...) Kunstprodukten zu umgeben.“ Eine hochmütige Haltung? Kummer sagt: „Man glaubt nicht, wie viele Leute es gibt, die kein Bild an der Wand hängen haben.“

„Stellenweise sensationell“

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Die Ausstellungen, die bald in und um die Stadthalle stattfanden, waren jedenfalls „stellenweise sensationell“, so Kummer.In dem einen Ausstellungsjahr lag eine nackte blonde Frau in einem Sarg. Oder vielleicht war es auch bloß eine Kiste. Der am Happening orientierte Beitrag reichte jedenfalls, um für Wirbel zu sorgen. „Die Leute waren aus dem Häuschen, geradezu empört“, amüsiert sich Kummer. Als in der Stadthalle ein Werk namens „Die Stadt“ alle Lebensbereiche abbildete, laut Kummer alles zeigte, „vom Bettler bis zur Kopulation“, und das gegenüber der Albanikirche, erregte sich der Kirchenvorstand. Eine Aufnahme, die ganz nach dem Gustus von  Schilling gewesen sei. „Er hat von Anfang an die These vertreten, dass zeitgenössische Kunst auch provozieren soll“, so Kummer. Schillings Credo: Wir müssen die Leute provozieren, damit sie reagieren.

Schilling war der Initiator. Die Entscheidungen traf bald das Ständige Komittee unter Gerhard Steidl im Alleingang. Dem Komittee gehörten Vertreter unterschiedlicher Gruppen des regionalen künstlerischen und sozialen Lebens an. Der Versuch der Demokratisierung schlug sich auch hierin nieder und hatte laut Kummer „auf die Dauer auch einen gewissen Nachteil“. Man habe „weniger auf die Qualität der künstlerischen Darstellung geachtet“, so Kummer. Der Anteil an Kunsthandwerk habe zum Beispiel zugenommen. In den Gremien hätten die früher einflussreichen Vertreter des Göttinger Apex verloren. Das Ende 1987 – für Kummer liegt es auch in der „veränderten Qualität“ des Kunstmarktes.

Ein Verlust? Sicherlich.

Der Kunstmarkt  war ein Produkt seiner Zeit, wiederholen ließe er sich nicht, meint Kummer. Ein Verlust? Sicherlich, meint Kummer. „Wir sind ja zurückgefallen, wenn es um die Kunstausstellungen geht.“ Zwar gebe es jetzt mehr Galerien. Aber die Situation sei wieder diesselbe wie Anfang der 70er: Besucht man eine Ausstellungen, sehe man immer „das gleiche Publikum“.

Die Zeitreise ist eine Geschichtswerkstatt des Tageblattes in Zusammenarbeit mit der Stadt. Derzeitige Reise-Etappe sind die 70er Jahre. Dafür werden Fotografien und Filmsequenzen aus privatem Besitz gesucht. Kontakt: über goettinger-zeitreise.de, unter Telefon  05 51 / 90 17 66 sowie per E-Mail an redaktion@goettinger-tageblatt.de.

GT/ET

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