Ärger um eine E-Mail
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Sylvia Binkenstein (SPD) ist bei dem Mietstreit um die Zimmermannstraße in den Fokus geraten.
Göttingen. Gerd Nier gilt als Kümmerer. Der erfahrene Ratsherr setzt sich ein, wenn es irgendwo knirscht. Energisch fasst er nach, wenn Bürger sich an ihn wenden. „Ich sehe mich als Ansprechpartner. Das ist doch unsere Aufgabe als Ratsmitglieder.“
Daher hat er auch nicht gezögert, sich anzuhören, welche Probleme die Bewohner der Häuser Zimmermannstraße 58 bis 64 mit den von Vermieter Klaus Schneider beauftragten Sanierungen und Instandhaltungen haben. Als Ratsherrn und Mitglied des Bauausschusses haben sie Nier angesprochen, ihren Unmut in Telefonaten und E-Mails kundgetan. "Zweimal war ich sogar vor Ort", sagt Nier. Er wollte sich selbst ein Bild von der Situation machen.
Mit den noch frischen Eindrücken des zweiten Besuchs setzt sich Nier am Sonnabend, 3. Februar, hin und schreibt im Namen der Ratsfraktion der Linken eine Anfrage an die Stadtverwaltung. Er habe den Entwurf der Anfrage an seine Fraktionsmitglieder geschickt und mit diesen abgestimmt. Mit der Bitte um eine Beantwortung im Bauausschuss am Donnerstag, 8. Februar, mailt Nier die Anfrage dann am Sonnabend um 15.18 Uhr an den Leiter des Referates für Ratsangelegenheiten, Frank Hildmann-Schönbach. Dieser gibt die Anfrage gleich am Montag, 5. Februar, um 7.11 Uhr an die zuständigen Verwaltungsstellen weiter.
Stadtsprecher Johannson zum Prozedere
Stadtsprecher Detlef Johannson erläutert den Umgang der Verwaltung mit Ausschussanfragen: „Anfragen, die vor Versand der Einladung bei uns eingehen, werden mit der Tagesordnung versendet und mit der Tagesordnung online gestellt. Erreichen uns die Anfragen verspätet, werden sie den Ausschussmitgliedern in der Sitzung überreicht und gehen anschließend – in der Regel mit der Antwort der Verwaltung – online.“ Adressat für alle diese Anfragen sei stets das Referat für Ratsangelegenheiten. Von dort würden diese regelmäßig an die fachlich zuständige Organisationseinheit, an den Oberbürgermeister, alle Dezernatsleitungen und die Öffentlichkeitsarbeit weitergeleitet. So sei es auch mit dem allerdings verspätet eingegangenen Vorstoß Niers geschehen. „Hier ist die Anfrage zusätzlich an den Fachbereich Ordnung gegangen, da zunächst nicht klar war, ob neben der Bauverwaltung auch dieser Fachbereich zur Beantwortung der Fragen beitragen musste“, erklärt Johannson. Auf Bitten der Ratsvorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden des Bauausschusses, Sylvia Binkenstein, habe auch sie die Anfrage vom Referat für Ratsangelegenheiten erhalten, ergänzt der Stadtsprecher. „So wie jedes Rats- oder Ausschussmitglied auf seinen Wunsch hin den Wortlaut einer Anfrage für öffentliche Ausschusssitzungen bekommen hätte.“ Johannson weist darauf hin, dass die Anfrage der Linken nicht online auf den städtischen Internet-Seiten zu finden gewesen sei.
Bereits am Montag wird die Anwältin Binkenstein tätig. „Mein Mandant hat mich am Montagnachmittag informiert, dass die ,Linken’ eine Anfrage an den Rat zu dem Thema Zimmermannstraße gestellt hätten. Diese Anfrage ging der ,Klaus Schneider Hausverwaltung’ am Montag zu“, erläutert Binkenstein. Sie habe die Anfrage nicht an Schneider weitergeleitet.
„Unwahre Tatsachenbehauptungen“
Im Auftrag ihres Mandanten verfasst sie dann ein mehrseitiges Schreiben an die Göttinger Linke im Rat der Stadt, das eine Unterlassungserklärung umfasst, die bis Mittwoch, 7. Februar, 9 Uhr, abzugeben sei. Niers Anfrage enthalte „unwahre Tatsachenbehauptungen“. Bei Zuwiderhandlungen drohte eine „Zahlung einer angemessenen Vertragsstrafe“. Nach Tageblatt-Informationen war diese aber nicht explizit beziffert.
Im ersten Absatz des Schreibens, das auf den 5. Februar datiert ist, macht Binkenstein deutlich, dass Schneider sie mit der Wahrnehmung seiner Interessen im Zusammenhang mit der Anfrage beauftragt hat. „Eine entsprechende Bevollmächtigung wird anwaltlich versichert.“
Einen Tag später, am Dienstag, 6. Februar, Nier will gerade seine Frau im Krankenhaus besuchen, steht Binkenstein vor seiner Haustür und übergibt ihm das Schreiben mit der Unterlassungserklärung. Nier beschrieb das am Freitag als „ungewöhnlichen Vorgang“.
Der Linken-Ratsherr ist verunsichert, er holt sich juristischen Rat und zieht seine Anfrage noch am 6. Februar um 18.06 Uhr per Mail an Hildmann-Schönbach zurück. Dieser schickt um 18.16 Uhr an alle Beteiligten in der Verwaltung den Hinweis, dass die Anfrage zurückgezogen und keine Beantwortung mehr nötig ist.
„Am folgenden Tag habe ich in einem persönlichen Gespräch mit Gerd Nier eine Einigung erzielt“, schildert Binkenstein. Nier bestätigt das und sagt am 7. Februar schriftlich gegenüber Binkenstein zu, die falschen Tatsachenbehauptungen in dieser Form nicht mehr zu wiederholen. Die Unterlassungserklärung habe er, so Nier, in der ursprünglichen Form aber nicht unterschrieben.
In einer persönlichen Erklärung schreibt Nier am Freitag: „Ich fordere den Rücktritt von Frau Binkenstein von ihren Ämtern und Funktionen im Rat der Stadt nicht. Selbstverständlich hätte ich es besser gefunden, wenn man mich auf Schwachstellen der ja in Windeseile verbreiteten Anfrage angesprochen hätte.“ Er halte es für unklug, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. „Aber das muss Herr Schneider für sich beurteilen. Vielleicht hat Frau Binkenstein, als sie als Rechtsanwältin den Auftrag von Herrn Schneider durchführte, zu wenig bedacht, dass sie damit in einen Interessenkonflikt mit ihrer Rolle als Ratsvorsitzende geraten könnte“, schreibt Nier. „Aber wir machen alle mal Fehler.“ Ihm liege nichts an einem Rachefeldzug gegen Binkenstein. Ihm liege daran, dass die Interessen der Mieter ernst genommen werden und ein Sprachrohr erhalten, sagt Nier, der Kümmerer.
Ungeklärt bleibt bislang, wie die Anfrage in die Öffentlichkeit gelangen konnte.
„Sie hätte dieses Mandat abgeben müssen“
Der Göttinger Jura-Professor und Experte für Kommunalrecht, Thomas Mann, verweist bei der Frage, ob die Vorsitzende des Göttinger Rates, Sylvia Binkenstein (SPD), ihre Neutralitätspflicht verletzt habe, auf das Vertretungsverbot im Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetz (NKomVG). Manns Meinung nach hätte Binkenstein als Anwältin des Vermieters Klaus Schneider nicht gegen das Ratsmitglied Gerd Nier (Linke) tätig werden dürfen. „Sie hätte dieses Mandat abgeben müssen“, sagt Mann.
Ratsmitglieder, die Anwälte sind, argumentiert Mann weiter, dürften keine Verfahren gegen die Gemeinde führen. Ratsmitglieder, im aktuellen Fall Ratsherr Nier, sieht Mann als „Teile eines Organs der Gemeinde“. Die Ratsvorsitzende Binkenstein gehe hier anwaltlich gegen ein anderes Ratsmitglied vor, das von seinem Recht als Ratsmitglied Gebrauch mache, eine Anfrage an die Verwaltung zu stellen. Dabei spiele es zunächst keine Rolle, so der Göttinger Jura-Professor, ob mit der Anfrage unwahre Tatsachenbehauptungen verbreitet werden. Denn mit dem Vertretungsverbot solle bereits der abstrakten Gefahr einer Interessenkollision vorgebeugt werden.
„Ob im konkreten Fall ein solches Vertretungsverbot besteht, entscheidet verbindlich der Rat. Dazu hat also eine Fraktion einen Antrag zu stellen, eine solche Beschlussfassung auf die nächste Tagesordnung zu setzen“, erläutert Mann weiter. Mit einem solchen Beschluss wäre für die Vergangenheit das Fehlverhalten festgestellt und für die Zukunft eine Wiederholung untersagt.
Für die niedersächsische Kommunalaufsicht weisen Binkensteins rechtsanwaltliche Tätigkeiten keinen unmittelbaren Bezug zu ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit als Abgeordnete auf. Das sogenannte Mitwirkungsverbot im NKomVG sei hier nicht einschlägig, sagt Bastian Lückfeldt, Sprecher des Innenministeriums. Danach sei es kommunalen Mandatsträgern untersagt, „an Beratungs- und Entscheidungsprozessen mitzuwirken, wenn diese ihnen selbst, ihren Familienangehörigen und Verwandten oder natürlichen oder juristischen Drittpersonen, zu denen eine spezielle Bindung oder Abhängigkeit besteht, einen unmittelbaren Vor- oder Nachteil bringen können“.
In dem bisherigen Vorgang gebe es keinerlei Hinweise darauf, „dass Binkenstein hier als Ratsfrau an Entscheidungen mitgewirkt hat und sich dabei in einem Interessenkonflikt zwischen dem öffentlichen Wohl der Stadt Göttingen und den privaten Interessen des von ihr vertretenen Mandanten befunden hätte“, erläutert Lückfeldt.
In einer Erklärung versichert Binkenstein, das Vertretungsverbot zu achten. Daran habe sie sich immer gehalten. Ihrer Unparteilichkeit als Ratsvorsitzende stehe ihr Beruf und dessen Ausübung nicht entgegen. „Ich trenne sehr strikt zwischen Ehrenamt und Beruf.“ Die NKomVG verlange aber nicht, „dass ich unparteiisch in meiner Berufsausübung bin“, schreibt sie. „Kein Ratsmitglied kann das leisten.“
Den Autor erreichen sie telefonisch unter 05 51 / 90 17 42 oder per E-Mail an m.brakemeier@goettinger-tageblatt.de.
Von Michael Brakemeier