Göttingen testet hoffnungsvolles Modell
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Schulbegleiterin Melanie Hirsch ist seit diesem Schuljahr zuständig für zwei Kinder: für Ida und für Mats, der allerdings gerade zur Kur ist.
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Göttingen. “Inklusion in der Kritik.“ „Inklusion als Problem.“ „Woran scheitert Inklusion?“ „Warum Inklusion unmöglich ist.“ So oder so ähnlich lauten die Schlagzeilen im Internet und anderen Medien. An der Idee und vor allem an der versuchten Praxis einer gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung in einer Regelschule scheiden sich die Geister. Diese Art der Beschulung würde das allgemeine Lernniveau drücken, bemängeln die Kritiker. Letztlich habe niemand etwas von Inklusion: lernschwache Kinder fühlen sich überfordert, gute Schüler werden nicht genug gefordert, heißt es.
Bildung ohne Diskriminierung
In der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen jedoch heißt es in Artikel 24, dass die Staaten ein Bildungssystem anbieten sollen, das auch Menschen mit Behinderung Bildung ohne Diskriminierung und auf der Grundlage von Chancengleichheit gewährt. Eine gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung war schließlich die Folge der UN-Vorgabe. Seither gibt es inklusive Schulen (Inklusion bedeutet so viel wie Einbeziehung).
Was gut und plausibel klang, hat sich im Schulalltag in der Tat als schwer umsetzbar erwiesen. Pädagogen können dem Lehrauftrag nicht mehr gerecht werden, wenn sie sich um zu viele Schüler kümmern müssen, die eine erhöhte Unterstützung benötigen. Das gilt nicht nur für lernschwache oder behinderte Kinder, sondern auch für Kinder von Zuwanderern, denen ausreichende Deutschkenntnisse fehlen.
Hohe Personalkosten
Bei den Kritikern galt die Inklusion bereits als gescheitert. Auch der Einsatz von Schulbegleitern (für sie gibt es auch die Bezeichnungen Schulassistenten oder Integrationshelfer) schien daran nichts zu ändern. Schulbegleiter sind, wie der Name sagt, Personen, die ein Kind in die Schule begleiten, das eine Körperbehinderung, eine geistige Behinderung, eine psychische oder seelische Störung hat. Bisher gilt: ein Kind, ein Begleiter. Entsprechend hoch sind die Personalkosten.
Träger sind die Sozial- oder die Jugendhilfe
Der Sprecher des Landkreises Göttingen, Ulrich Lottmann, beschreibt das Prozedere so: „Wenn Schüler mit Behinderung in der Schule einen Bedarf an individueller Unterstützung haben, der durch das Personal der Schule nicht oder nicht regelmäßig erbracht werden kann, kann eine Schulbegleitung notwendig werden.“ „Da es sich grundsätzlich um einen individuellen Rechtsanspruch des Schülers handelt, stellen die Erziehungsberechtigten den Antrag beim zuständigen Leistungsträger. Umfang, Dauer und Qualität der Schulbegleitung werden vom Sozialleistungsträger ermittelt, maßgebend ist hierbei der individuelle Bedarf des Schülers“, erläutert Lottmann.
Mehrere Erwachsene in der Klasse
Kinder können also auf Antrag ihrer Eltern das Recht auf eine erwachsene Person zugesprochen bekommen, die mit in die Schule geht und im Klassenraum bei allem hilft, was das Kind allein nicht bewältigen kann. Unter Umständen sitzen in einer Klasse mehrere Erwachsene. Deren Qualifikation für diese Arbeit war bisher recht unterschiedlich ausgeprägt. Landkreis und Stadt Göttingen haben jetzt an den Integrierten Gesamtschulen (IGS) Geismar und Bovenden eine bereits schon in anderen Städten laufende „systemische Schulbegleitung“ als Modell eingeführt. Schulbegleiter können hier auch für zwei Schüler eingesetzt werden. „Ermöglicht wurde das durch eine tolle Göttinger Verwaltung, die neue Wege geht“, ordnet es Harald Wolff ein. Wolff engagiert sich im Arbeitskreis Downsyndrom Göttingen und hat selbst eine kleine Tochter mit Trisomie. Hinter der Idee, dieses Modell auch in und um Göttingen auszutesten, stehe das Bürgerforum „Inklusion bewegen“. Unter dem Strich sei das ein Übergang vom rechtlich bestehenden Individualanspruch des einzelnen Kindes hin zu einer strukturellen Verankerung in der Schule, fasst es Wolff zusammen. Ziel sei es, das Prinzip schnell auf andere Schulen zu übertragen.
Erstes Fazit „sehr gut“
„Grundsätzlich sind unsere Erfahrungen mit dem Modellversuch sehr gut“, zieht die Schulleiterin der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule in Geismar, Tanja Laspe, ein erstes Fazit. „Die bisherige Situation, dass ein Schulbegleiter für ein Kind zuständig war, entsprach häufig nicht den realen Bedürfnissen des Kindes und verhinderte die Möglichkeit, dass andere Kinder ebenfalls in den Blick genommen werden konnten“, erklärt sie. Durch den Modellversuch seit es möglich, Schulbegleitung wesentlich sinnvoller in den Klassen und Jahrgängen zu organisieren. Auch habe sich die arbeitsrechtliche Situation der Schulbegleiter deutlich verbessert. „Diese sind in unserem Fall jetzt einheitlich beim Haus mit vielen Etagen beschäftigt und über eine Koordinatorin in den einzelnen Jahrgängen eingesetzt“, erläutert die Schulleiterin. Sie ergänzt: „Ebenfalls können wir weiterhin für Kinder, die eine eins zu eins Betreuung brauchen, Schulbegleiter bei diesem Kind belassen. Diese in unterschiedlichen Bereichen entstandene Flexibilität ist für uns sehr wichtig und deutlich näher an unserem Schulleben orientiert.“
Ida und Max bleiben zusammen
An der Göttinger Brüder-Grimm-Schule, die allerdings nicht in das Modell einbezogen ist, betreut Schulbegleiterin Melanie Hirsch seit diesem Schuljahr zwei Kinder mit Downsyndrom. Die Eltern der Kinder Ida und Mats hatten nämlich nach einer Möglichkeit gesucht, die beiden Erstklässler, die bereits vor ihrer Einschulung miteinander befreundet waren, in eine gemeinsame Klasse zu bringen. In Absprache mit dem Sozialamt als Träger der Maßnahme und der Schulleitung kam es zu dieser Variante, bei der eine Begleiterin für zwei Kinder zuständig ist. Da die Eltern bei einer Hospitation die Arbeit der Schulbegleiterin kennen- und schätzenlernten, äußerten sie den Wunsch, dass sie beiden Kindern zur Seite stehen möge. „Das ist ein spezieller Fall“, sagt Hirsch. Sie weist darauf hin, dass hier die Chemie zwischen allen Seiten stimmt. Förderschullehrerin Meike Kutah versichert: „Es funktioniert sehr gut. Sie macht das grandios.“ In den Klassen der Grundschule werden drei bis vier Kinder mit einer Behinderung beschult, zumeist bei jeweils einem Kind sei auch eine Begleitung nötig, erläutert die Lehrerin. Sie beschreibt auch, wie sich die Schulbegleiterin einbringt: „Sie motiviert. Sorgt für eine gute Kommunikation. Hilft bei der Integration. Nimmt bei autistischen Kindern eine Übersetzungsfunktion wahr, weil die sich oft gar nicht angesprochen fühlen. Sie erledigt Aufgaben, für die ein Lehrer gar keine Zeit hat. Und sie kennt die Kinder sehr gut und kann uns, also der Klassenlehrerin und mir, wichtige Rückmeldungen geben.“
„Ich finde es super“
Idas Mutter Birte Wirxel ist begeistert von der Variante. Sie sagt: „Wir waren erst skeptisch, weil Ida sehr quirlig ist. Aber es läuft wunderbar. Ida fängt sogar schon an zu lesen.“ Das Modell, dass ein Begleiter für zwei Kinder da ist, sei hier geradezu ein Paradebeispiel. Das liege auch daran, dass die Schule dahinter stehe, ist sich Wirxel sicher. „Ich finde es super, dass die Kinder die Möglichkeit haben, auf eine Regelschule zu gehen“, hebt sie hervor. „Ich denke, das ist ein Modell für die Zukunft. Viele Kinder brauchen auch gar nicht immer die volle Aufmerksamkeit eines Begleiters.“
Hintergrund
Das jetzt angelaufene Modellprojekt der systemischen Schulbegleitung als Poollösung an der IGS Bovenden und der IGS Geismar läuft dreieinhalb Jahre und endet am 31. Juli 2022. Aktuell sind im Bereich des Landkreises Göttingen (ohne Stadt Göttingen) 395 Schulbegleitungen tätig, davon 350 als Integrationshelfer an Regelschulen, 42 an Förderschulen und drei während einer teilstationären Betreuung.
In Niedersachsen sind die jährlichen Aufwendungen für die Schulbegleitungen von 2012 bis 2016 allein in der Sozialhilfe von 33,5 auf 72,1 Millionen Euro gestiegen, das sind 115 Prozent. In einem Vorlagentext des Fachbereiches Soziales des Landkreises Göttingen heißt es: Es wird landesweit nach Möglichkeiten gesucht, die Ausgaben zu begrenzen und die Hilfe zu optimieren. Das auch von anderen Kommunen getestete Modell einer systemischen Schulassistenz könnte dem Ziel dienlich sein.
43 Schulbegleiter in Göttingen
Der Sprecher der Stadtverwaltung Göttingen, Dominik Kimyon, äußert sich zum Thema Schulbegleitung. In Stadt und Landkreis läuft für dreieinhalb Jahre eine Modellprojekt.
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Dominik Kimyon.
© Quelle: Niklas Richter
Welche Voraussetzungen müssen Schulbegleiter mitbringen, um von der Stadt Göttingen als solche eingesetzt zu werden?
Grundsätzlich gilt, dass Schulbegleiter von ihrer Persönlichkeit geeignet sein müssen und Erfahrungen im pädagogischen Bereich haben. Eine besondere formale Qualifikation oder ein pädagogischer Berufsabschluss wird nicht gefordert. Speziellere Qualifikationen können sich aus dem Bedarf im Einzelfall ergeben.
Wie viele Schulbegleiter sind derzeit an Göttinger Schulen tätig?
Für den städtischen Fachbereich Jugend werden im laufenden Schuljahr insgesamt 56 Fälle betreut, davon in Schulen im Stadtgebiet 43 Schulbegleiter. Die anderen Fallzahlen beziehen sich auf Schulen außerhalb des Göttinger Stadtgebiets. So besuchen Göttinger Schüler auch auswärtige Schulen, etwa die IGS in Bovenden.
Wie wird der Bedarf an Schulbegleitern festgestellt? Stellt die jeweilige Schule einen Antrag beim Schulträger?
Die Anträge müssen von den Personensorgeberechtigten gestellt werden. In der Regel veranlassen die Schulen die Antragstellung, weil ein Kind verhaltensauffällig ist. Bei entsprechender Antragstellung prüft der Sozialdienst den Bedarf. In der Regel wird ein Gutachten der Fachstelle Diagnostik angefordert, aus dem sich ergibt, ob die seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und ob daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Sofern beide Voraussetzungen erfüllt sind, wird im Rahmen einer Unterrichtshospitation beobachtet, in welchen Bereichen Unterstützungsbedarf besteht.
Seit dem 1. Februar wird an der IGS Geismar und in der IGS Bovenden im Rahmen eines Modellprojektes eine inklusivere Form der Schulbegleitung ausprobiert. Es handelt sich um ein zwischen der Stadt und dem Landkreis Göttingen abgestimmtes Modellprojekt. In beiden Kommunen sind jeweils die Sozialhilfe als auch die Jugendhilfe beteiligt. An beiden Schulen steht ein Schulassistenten-Pool zur Verfügung. Die Schulbegleiter sind als Honorarkräfte tätig oder sozialversicherungspflichtig bei den Trägern angestellt.
Volkshochschule Northeim bietet Qualifizierung an
Träger der Sozialhilfe und Kommunen legen immer mehr Wert auf eine möglichst einheitliche und hochwertige Ausbildung von Schulbegleitern. Einige Volkshochschulen bieten Kurse an.
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Die Volkshochschule Northeim bietet mittlerweile Qualifizierungen für Schulbegleiter an. Diese Klasse nahm Ende vergangenen Jahres ihre Zertifikate in Empfang.
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Hinsichtlich der Schulbegleiter wird jetzt nach Tageblatt-Recherchen jetzt allgemein auf eine bessere und einheitliche Qualifizierung geachtet. An der Kreisvolkshochschule Northeim haben Ende des vergangenen Jahres 14 Frauen und Männer erfolgreich eine Weiterbildung zum Schulbegleiter absolviert. Darauf weist Landkreis-Sprecher Dirk Niemeyer hin. Die Weiterbildung schloss mit einem Zertifikat des Landesverbandes der Volkshochschulen ab. Elf Monate lang haben sich die Teilnehmer mit Themen wie körperlich motorische und geistige sowie emotionale soziale Entwicklung von Kindern, Körperbehinderungen, seelische Beeinträchtigungen und Kommunikation befasst. In einer Abschlussarbeit beschäftigten sie sich mit ADHS (der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung), dem Autismus-Spektrum und Schwerbehinderung. Bei der Übergabe der Zertifikate ermutigten die Kursleiterinnen Monika Friedhoff und Annette Markert die Absolventen, das erworbene Wissen gut zu nutzen.
Männer gern gesehen
„Die Teilnehmer haben ihr Wissen an 133 Stunden zumeist an Wochenenden erworben“, sagt Monika Friedhoff. Die Ausbildung zum Schulbegleiter sei von zwei Sozialpädagogen entwickelt und im Landkreis Meppen erstmals als tauglich für Volkshochschulen eingestuft worden. „Ausbildungen zum Schulbegleiter bieten mittlerweile einige Volkshochschulen an. In manchen Städten wird die Ausbildung demnächst möglich sein“, sagt Friedhoff. Der Großteil der Schulbegleiter sind Frauen. Die Träger der Schulbegleitung – Paritätische Lebenshilfe, Rotes Kreuz, Arbeiter-Samariter-Bund, Jugendhilfe Süd-Niedersachsen und andere – würden aber auch gerne Männer in die Bildungsstätten schicken. „Es gibt schon schwierige Jungs in den Grundschulen. Die sind dort nur von Frauen umgeben. Auch für Kinder mit Migrationshintergrund können Männer ein optimaler Ansprechpartner sein“, meint Friedhoff. Die Arbeitsbedingungen sowie die Bezahlung der Schulbegleiter sind nach ihrer Erfahrung je nach Träger unterschiedlich. Zudem sei es in Northeim gar nicht so einfach gewesen, geeignete Dozenten zu finden. „Inzwischen gibt es aber einen Stamm.“ Der nächste Kurs sei in Planung, sagt die 70-Jährige, deren drei Töchter allesamt im Bereich der Inklusion arbeiten.
Von Ulrich Meinhard