Keine Lobby für bezahlbaren Wohnraum in Göttingen
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/TVPHD4KDDTJ2GV2H54JLY6B2WI.jpg)
Michael Mießner, Jana Pasch und Nils Spörkel (v.l.): Kritische Diskussion zur Eröffnung der offenen Mietberatung in der Oberen-Masch-Straße 10.
© Quelle: sg
Göttingen. Werden einkommensschwache Bürger faktisch verdrängt, wenn die Mieten steigen? Und verschärfen staatliche und kommunale Bau- und Sanierungsprogramme das Problem? Leider lasse sich genau das beobachten, so das Fazit einer Veranstaltung des BürgerInnenforums Waageplatz. Auch in Göttingen.
Anlass, sich mit der Mietpreisentwicklung und ihren Folgen in Göttingen zu befassen, war die Einrichtung der offenen Mietberatung durch das Forum Waageplatz. Der vorher schon in Berlin rund um Mieterfragen tätige Anwalt Nils Spörkel wird künftig zweimal monatlich in den Räumen der Oberen-Masch-Straße 10 für Mieter ansprechbar sein.
Als Referenten war Michael Mießner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Universität Göttingen, und Jana Pasch, die über Stadtentwicklung promoviert, eingeladen. Mießner machte deutlich, dass im städtischen Durchschnitt die Mieten seit 2013 von acht Euro pro Quadratmeter auf knapp zehn Euro gestiegen sind. Gleichzeitig schrumpfte der Anteil an günstigem Mietwohnraum bis 7,50 Euro pro Quadratmeter von knapp 45 Prozent (2013) auf aktuell rund 15 Prozent. „Das ist das zentrale Problem“, so Mießner. „Wir haben nicht eine allgemeine Wohnungsnot, sondern eine im Niedrigpreissektor.“
Die Ursache sieht Mießner darin, dass sich die Wohnungsversorgung nicht an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert, sondern an Investoreninteressen. Für diese seien etwa die Bestände mit niedrigen Mieten besonders interessant, weil sich durch Investitionen hohe Mietpreissteigerungen erzielen ließen. Davon sind jedoch die einkommensschwachen Bewohner betroffen.
„Es gibt Indizien dafür, dass inzwischen auch eine Verdrängung von einkommensschwachen Menschen aus Göttingen auf das Land oder in umliegende kleinere Städte stattfindet, auch wenn das empirisch noch schwer zu fassen ist“, so Mießner. In Fachkreisen wird das Phänomen als Verdrängungskette bezeichnet. Die Stadt nehme diese Verdrängung jedenfalls bewusst in Kauf, so Jana Pasch. Bei den Sanierungen in der Weststadt sei diese Folge klar benannt worden, die Bezahlbarkeit des Wohnraums habe dort kaum eine Rolle gespielt.
Bürgerbeteiligungsveranstaltungen, in denen städtische Vorhaben öffentlich diskutiert werden können, sind in Paschs Augen ein Feigenblatt, da mit diesen Formaten ohnehin nur die besser Situierten erreicht werden, die sich deutlich besser in der Politik Gehör verschaffen können als Einkommensschwächere. „Das nennt man auch Klassenkampf von oben“, so Pasch. Dies lasse sich derzeit wieder am Sanierungskonzept für die nördliche Innenstadt beobachten – die als Problem wahrgenommenen Jugendlichen, die den Waageplatz nutzen, würden vom bisherigen Bürgerbeteiligungsprozess gar nicht erreicht. „Das wird jedoch in der Debatte verdrängt“, so Pasch. Einkommensschwachen fehlt in aller Regel die Lobby – diese Kritik teilt auch Michael Mießner und wünscht sich ein stärkeres Problembewusstsein bei der Stadt.
Doch am Grundproblem des fehlenden bezahlbaren Wohnraums ändert auch das wenig – und das von der Stadt beschlossene kommunale Handlungskonzept hält Mießner für nicht nachhaltig und nur einen ersten Schritt, denn „über den Markt bekommt man das nicht hin“. Spätestens mit dem Auslaufen der Mietpreisbindung in 15 bis 20 Jahren stehe man wieder dort, wo man gegenwärtig ist.
„Die Strategie muss sein, dass sich die Stadt als Akteur stärker einbringt und selbst Wohnraum zur Verfügung stellt“, so Mießner. „Es heißt, dass die Städtische Wohnungsbau dafür finanziell und personell nicht aufgestellt ist, aber dann muss man an diesem Punkt ansetzen.“ Auch, dass die Stadt ihr gehörende Grundstücke der städtischen Wohnungsbau übertrage, statt sie zu verkaufen, sei eine Möglichkeit, günstigen Wohnraum zu schaffen. Statt des schnellen Euros sei das eine langfristige Investition. Allerdings: Großes Interesse seitens der Stadt, diese Möglichkeiten zu diskutieren, hat Mießner bislang nicht wahrgenommen.
Jeden ersten und dritten Mittwoch zwischen 18 und 19.30 Uhr findet die kostenfreie Mietberatung im Saal der Oberen-Masch-Straße 10 statt. Im Wartebereich organisiert das BürgerInnenforum Waageplatz ein Mietercafé, bei dem sich die Beratungssuchenden austauschen können.
Von Sven Grünewald