Rat der Stadt Göttingen

Piraten wollen Binkenstein abberufen

Sylvia Binkenstein (SPD), Vorsitzende des Göttinger Rates.

Sylvia Binkenstein (SPD), Vorsitzende des Göttinger Rates.

Göttingen. Hintergrund für den Antrag ist die Verquickung zwischen Binkensteins politischem Mandat als SPD-Ratsfrau, Ratsvorsitzende und stellvertretende Vorsitzende des Bauausschusses und der anwaltlichen Tätigkeit für Immobilienunternehmer Klaus Schneider. Als Schneiders Rechtsanwältin hatte Binkenstein dem Ratsmitglied Gerd Nier (Linke) im Februar eine strafbewehrte Unterlassungserklärung persönlich überreicht und damit eine Anfrage Niers im Bauausschuss zu den Auseinandersetzung um Sanierungen und Instandhaltungen zwischen Schneider und seinen Mietern an der Zimmermannstraße unterbunden. Als stellvertretende Vorsitzende des Bauausschusses hatte Binkenstein sich die schriftlich bei der Verwaltung eingereichte Anfrage Niers zuschicken lassen.

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In einer Erklärung hatte Binkenstein versichert, sich stets an das Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetz gehalten zu haben. Ihrer Unparteilichkeit als Ratsvorsitzende stehe ihr Beruf und dessen Ausübung nicht entgegen. "Ich trenne sehr strikt zwischen Ehrenamt und Beruf."

Schaden für das präsidiale Amt

Die Antragsteller sehen diese Trennung nicht: „Die Notwendigkeit einer Abberufung ergibt sich aus der in der Öffentlichkeit nicht vermittelbaren Verflechtung von anwaltlichen Sonderinteressen mit der Wahrnehmung der politischen Mandatsfunktion, insbesondere in beiden leitenden Ämtern. Schon allein der äußere Anschein eines Interessenwiderstreits schadet dem Ansehen des präsidialen Amtes“, heißt es in der Antragsbegründung.

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Francisco Welter-Schultes

Francisco Welter-Schultes

Für Binkensteins Abberufung ist eine Stimmenmehrheit von 24 der 47 stimmberechtigten Ratsmitglieder nötig. Die Bündnispartner SPD und Grüne kommen mit der Stimme von SPD-Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler auf 25 Stimmen. Francisco Welter-Schultes von der Piraten-und-Partei-Ratsgruppe (3 Stimmen) rechnet damit, dass einige Mitglieder von SPD und Grüne für eine Abberufung Binkensteins stimmen – vorausgesetzt es käme zu einer geheimen Abstimmung.

Tom Wedrins (SPD)

Tom Wedrins (SPD)

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Tom Wedrins hingegen sieht seine Fraktion (15 Stimmen) geschlossen hinter Binkenstein. „Der Versuch, eine Ratsvorsitzende abzuberufen, ist ein einmaliger Vorgang für Göttingen. Unter Demokraten wäre es eigentlich üblich, dass die Piraten die Betroffene vorab informieren“, sagt Wedrins. Binkenstein habe durch Schneider von der Anfrage erfahren, nicht durch die Verwaltung. Dazu habe sie ausführlich Stellung bezogen. Dem schließe sich die SPD-Fraktion uneingeschränkt an. Binkenstein habe immer betont, dass, sollte es einen Interessenskonflikt zwischen ehrenamtlichen Ratsvorsitz und ihrem Beruf geben, sie diesen benennen würde, sagt Wedrins. Dieses Regeln habe Binkenstein eingehalten. Binkenstein selbst reagierte am Freitag nicht auf eine Tageblatt-Anfrage.

Behauptungen wider besseren Wissens

Wedrins weiter: „Es fördert die Politikverdrossenheit, wenn die Piraten wider besseren Wissens weiterhin behaupten, dass Sylvia Binkenstein etwas vorzuwerfen sei. Der Sachverhalt ist vor Wochen aufgeklärt worden und alle Vorwürfe wurden entkräftet.“

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Marcel Pache, stellvertretender Vorsitzender der CDU-Ratsfraktion Göttingen

Marcel Pache, stellvertretender Vorsitzender der CDU-Ratsfraktion Göttingen

In der CDU (11 Sitze) geht die Tendenz dahin, dem Antrag auf Abberufung zuzustimmen, sagt der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Marcel Pache. Auch wenn juristisch an Binkensteins Verhalten alles in Ordnung sei, würden die Gesamtvorgänge doch Fragen aufwerfen, so Pache. Für ihn ist klar, dass Binkenstein „Kentnisse aus dem Rat dienstlich genutzt hat“.

Die CDU hatte bereits im Februar Zweifel an Binkensteins Neutralität geäußert.

Rolf Becker (Grüne)

Rolf Becker (Grüne)

Frationsintern haben die Grünen (9 Sitze) noch nicht über den Antrag diskutiert. Grünen-Fraktionschef ist bei dem Sinn der „formalen“ Abberufung skeptisch. Becker rät Binkenstein, „noch einmal“ über den möglichen Rollenkonflikt und ihre Haltung nachzudenken.

Felicitas Oldenburg (FDP)

Felicitas Oldenburg (FDP)

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“Wir werden für die Abberufung stimmen“, kündigt Felicitas Oldenburg von der FDP (3 Sitze) an. Der Fall Binkenstein gehe weit über eine rechtliche Bewertung hinaus. „Es ist eine Frage des Vertrauens in politische Gremien.

Gerd Nier (Linke)

Gerd Nier (Linke)

Auch bei den Linken (3 Stimmen) stehen die Zeichen auf Zustimmung. „Wir werden vermutlich dafür stimmen“, sagt Nier.

Für die partei- und fraktionslose Katrin Prager scheint ein „Interessenkonflikt offensichtlich“. Für sie seien „einige Fragen nicht geklärt“. Auch Oberbürgermeister Köhler habe in der vergangenen Ratssitzung „nicht viel Licht ins Dunkle“ gebracht. „Zurück bleibt bei mir ein Geschmäckle“, so Prager. Sie werde für die Abberufung stimmen.

Juristische Einschätzung zur Abberufung

Juristisch strittig ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Rat über den Antrag auf Abberufung geheim beschließen muss. Geht der Rat davon aus, dass es sich bei der Abberufung um eine „Abstimmung“ handelt, so wird nach dem Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetz (NKomVG) „offen abgestimmt, soweit in der Geschäftsordnung nichts anderes geregelt ist“ (Paragraf 66). Eine geheime Abstimmung wäre danach nur durch einen Mehrheitsbeschluss des Rates möglich. Sieht der Rat hingegen in der Abberufung Binkensteins eine „Wahl“, so sieht die Kommunalverfassung in Paragraf 67 vor, dass bereits „auf Verlangen eines Mitglieds der Vertretung“ geheim gewählt werden muss.

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Einschaltung der Kommunalaufsicht

"Sofern der Rat den Antrag auf geheime Wahl ausdrücklich ablehnt und anschließend dann auch nicht geheim beschließt, könnte sich ein Ratsmitglied zur verbindlichen Klärung dieser Frage an das Verwaltungsgericht wenden", sagt der Staatsrechtler Alexander Thiele von der Universität Göttingen. Möglich wäre es auch, die Kommunalaufsicht damit zu befassen, die sich – so Thiele – auch von Amts wegen einschalten könnte.

„Das Gesetz ist hier nicht ganz eindeutig“

Für Thiele spricht einiges dafür, dass es sich auch bei einer Abberufung um eine Wahl handelt. „Das Gesetz ist hier nicht ganz eindeutig“, räumt er ein. Es erlaube beide Lesarten. So heißt der Paragraf 61 zwar „Wahl der oder des Vorsitzenden“. Absatz 2 des Paragrafen spricht aber nicht von Abwahl, sondern von Abberufung. Am Ende entscheidet in jedem Fall die „Mehrheit der Mitglieder der Vertretung“ – das ist die Anzahl der stimmberechtigten Vertreter, unabhängig ob tatsächlich alle abgestimmt haben oder anwesend sind. Eine Enthaltung oder eine Nichtbeteiligung an der Abstimmung zähle damit faktisch als Nein-Stimme, so Thiele.

Geheime Wahl schützt Interessen der Ratsmitglieder

Die Idee einer geheimen Abstimmung sei es, „eine ehrliche Wahl“ sicherzustellen, sagt Thiele. Also eine Wahl ohne Zwänge der eigenen Fraktion für die Mitglieder. Sie helfe, spätere „Animositäten“ innerhalb des Rates zu vermeiden, um so die „Funktionalität“ des Gremiums zu wahren. „Eine geheime Wahl schützt nicht zuletzt die Interessen des einzelnen Ratsmitglieds“, sagt Thiele.

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Auch wenn es „guter politischer Stil“ wäre, so Thiele, muss die Ratsvorsitzende Binkenstein rechtlich gesehen während des Vorgangs zu ihrer Abberufung den Vorsitz nicht an einen Stellvertreter abgeben.

„Eine Nicht-Abberufung Binkensteins ist auch ein Statement“

Für Thiele ist die Abberufung Binkensteins eine politische Frage. „Will der Rat, dass Binkenstein ihn als seine Vorsitzende auch nach außen weiterhin vertritt?“ So habe Binkenstein – sofern die Vorwürfe zutreffen – aus Thieles Sicht in „vielfältiger Weise“ politisches Mandat und anwaltliche Tätigkeit für Schneider „unzulässig“ verquickt und so dem Ansehen des Rates geschadet. Ihre Abberufung könnte dazu beitragen, die „Integrität des Rates“ wieder zu wahren. „Eine Nicht-Abberufung Binkensteins ist auch ein Statement“, sagt Thiele.

Die Ratssitzung beginnt am Freitag, 13. April, um 16 Uhr im Ratssaal des Neuen Rathauses, Hiroshimaplatz 1-4.

Den Autor erreichen sie telefonisch unter 05 51 / 90 17 42 oder per E-Mail an m.brakemeier@goettinger-tageblatt.de.

Von Michael Brakemeier

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