Untersuchung der Universität Göttingen

Studie attestiert Lehrern überlange Arbeitszeiten

Egal wie rege die Unterrichtsbeteiligung: Für Lehrer ist einer Studie der Universität Göttingen zufolge der Job immer anstrengender geworden.

Egal wie rege die Unterrichtsbeteiligung: Für Lehrer ist einer Studie der Universität Göttingen zufolge der Job immer anstrengender geworden.

Göttingen / Hannover. Lehrer in Deutschland arbeiten nach einer Studie im Auftrag der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im Schnitt länger als vergleichbare Beschäftigte im öffentlichen Dienst. „Im Schnitt arbeiten Lehrerinnen und Lehrer an Grundschulen, Gesamtschulen und Gymnasien 48.18 Stunden wöchentlich gegenüber der Vergleichsbasis von 46.38 Stunden, die sich rechnerisch ergibt, wenn man die 40-Stunden-Woche der Verwaltungsbeamten auf die Schulwochen umrechnet“, teilte die Gewerkschaft am Montag mit und forderte eine umgehende Entlastung der Lehrkräfte.

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Die Köpfe hinter der Studie

Die „Niedersächsische Arbeitsbelastungsstudie 2016 – Lehrkräfte an öffentlichen Schulen“ ist an der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Georg-August-Universität Göttingen unter der Leitung von Frank Mußmann entstanden. Beteiligt waren Thomas Hardwig, Martin Riethmüller, Stefan Peters, Marcel Parciak, Ilka Charlotte Ohms und Stefan Klötzer.

Mußmann, Leiter der Kooperationsstelle für Hochschulen und Gewerkschaften an der Universität Göttingen, hatte mit seinem Team vor eineinhalb Jahren bereits eine Studie zur Arbeitszeit der Lehrer in Niedersachsen vorgelegt. Dafür hatten knapp 2900 Lehrkräfte aus 255 Schulen fast ein Jahr lang ihre Arbeitszeit genau protokolliert. Den Ergebnissen zufolge arbeiteten Niedersachsens Gymnasiallehrer im Schnitt pro Woche drei Stunden mehr als sie mussten, Grundschullehrer etwa eine Stunde und 20 Minuten mehr.

Seit 20 Jahren seien Lehrern ständig neue Aufgaben aufgesattelt worden und die Zahl der Pflichtstunden sei teils noch erhöht worden, sagte die GEW-Bundesvorsitzende Marlis Tepe bei der Vorstellung der Studie am Montag in Hannover. Die Gesundheit der Lehrer sei dadurch gefährdet, dringend nötig sei eine spürbare Entlastung. Für Lehrer an Grundschulen, Gesamtschulen und Gymnasien hatte die GEW 20 Studien zur Arbeitszeit aus den vergangenen 60 Jahren auswerten lassen. Dabei handelte es sich um zwei landesweite, 13 länderspezifische und fünf länderübergreifende Untersuchungen. Zehn von ihnen, so Mußmann, hätten die Arbeitszeit präzise ermitteln können – somit sei das Klischee der Unmessbarkeit bereits aus der Welt geschafft. Darauf wies auch die GEW-Vorsitzende am Montag hin: „Lange Zeit wurde die Arbeitszeit von Lehrkräften für unbestimmbar gehalten. Die neue Göttinger Studie kommt jetzt zum gegenteiligen Ergebnis: Sie ist sehr wohl bestimmbar. Und sie ist im Durchschnitt der drei genannten Schulformen deutlich zu hoch“, sagte Marlis Tepe. Eine Übersicht zur Entwicklung der Pflichtstundenzahlen in allen Bundesländern zeige, dass statt einer Senkung häufig sogar mehr Pflichtstunden angeordnet werden. „Seit rund 20 Jahren werden den Lehrkräften ständig weitere Aufgaben draufgesattelt, ihre Pflichtstundenzahl wurde aber nicht grundsätzlich reduziert. Die Gesundheitsrisiken sind inzwischen immens. Hier brauchen wir dringend Entlastungen“, betonte Tepe.

Arbeitszeitverkürzung nicht bei Lehrern angekommen

Nach der Untersuchung arbeiten Lehrer pro Woche eine Stunde und 40 Minuten länger als andere öffentliche Angestellte, wobei die Schulferienzeiten schon berücksichtigt wurden. Der Göttinger Sozialwissenschaftler Frank Mußmann, der die Untersuchung leitete, sieht Lehrkräfte aufgrund zu hoher Arbeitszeitvorgaben gegenüber vergleichbaren Beschäftigten im öffentlichen Dienst im Schnitt schlechter gestellt.

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„Die Arbeitszeitverkürzungen der letzten Jahrzehnte kamen nur verspätet und nicht vollständig an.“ Dies sei das konsolidierte Ergebnis der untersuchten Studien aus 60 Jahren mit verschiedenen Methoden und von unterschiedlichsten Auftraggebern.

Mußmanns Team hatte die Forschungsarbeit im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung und der GEW von August 2016 bis Dezember 2017 durchgeführt – als Fortsetzung einer vorangegangenen Studie. Aus der neuen Untersuchung geht hervor, dass zwischen 14 und 19 Prozent der Lehrkräfte sich sogar im Bereich überlanger Arbeitszeiten von mehr als 48 Stunden in der Schulwoche bewege.

Erholungsmöglichkeiten fehlen

„Es fehlen Erholungsmöglichkeiten in den Schulpausen, die Sieben-Tage-Woche ist in der Schulzeit quasi obligatorisch und die Entgrenzung der Arbeitszeit ist fast die Regel“, führte der Wissenschaftler aus. Selbst unter Einrechnung der Ferienzeiten, die zumeist erhebliche Arbeit zu Hause bedeuteten, kämen Lehrkräfte im Mittel auf 48 Stunden und 18 Minuten in der Woche.

Grund dafür sei unter anderem ein seit der Kaiserzeit nahezu unverändertes Deputatsmodell: 1873 hatten Lehrer in Volks- beziehungsweise Grundschulen 30 Unterrichtsstunden zu leisten, 2015 in Niedersachsen 28. An Gymnasien ging die Zahl um rund eine halbe Wochenstunde herunter. „In diesem Zeitraum halbierte sich die Wochenarbeitszeit von Industriearbeitern“, führte Mußmann zum Vergleich an. „Trotz tiefgreifender Veränderungen in der Gesellschaft und im Schulsystem blieb die Regelstundenbemessung in den Schulen weitgehend unberührt.“

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So schlüsselt er in der Studie unter anderem die Jahresarbeitszeit von Lehrkräften, unterteilt nach Schulformen, seit 1958 auf. Im Mittel sank diese bis 1997, seither verzeichnet die Kurve wieder einen Anstieg. Zugleich verschoben sich – auch das belegt Mußmann – die Arbeitsfelder in den vergangenen Jahrzehnten deutlich weg vom reinen Unterrichten in den eigenen Klassen, Korrigieren und Prüfen hin zu kleinteiligeren Zusatzaufgaben wie der Beteiligung an Arbeitsgruppen, Organisation und Vernetzung. 1958 bestanden 60 Prozent der Arbeitszeit von Grundschullehrern demnach im Unterrichten, 2016 hingegen 60 Prozent in Aufgaben abseits des Unterrichtens. Lehrer an Gymnasien, die nach den Ergebnissen der Untersuchung historisch mehr mit „Aufgaben außer an der Tafel“ zu tun hatten – 41,9 Prozent der Zeit verbrachten aus Unterrichtstätigkeit– sollen demnach 2015/16 weniger als ein Drittel der Zeit damit verbracht haben. In Gesamtschulen ist der Anteil bei etwa einem Drittel stabil.

Mußmann folgert daraus, dass sich die professionelle Rolle von Lehrkräften wandele. Der Unterricht habe anteilig einen immer geringeren Stellenwert und nicht unmittelbar unterrichtsbezogene Tätigkeiten nähmen zu. „Ob damit auch ein geringerer Stellenwert des Unterrichts selbst einhergeht, ist die offene Frage.“

Auch Grundschullehrer betroffen

Zu den neuen Entwicklungen gehöre auch, dass Lehrkräfte an Grundschulen einer steigenden Arbeitszeitbelastung ausgesetzt seien. „Sie liegen ebenfalls über der Vergleichsnorm, die Unterschiede zwischen den Schulformen werden geringer.“ Forschungsbedarf sieht der Wissenschaftler hinsichtlich der Existenz sogenannter Deckelungseffekte bei Vollzeitkräften. Also: Die Vollzeitkraft muss aufgrund von Zeitmangel Abstriche bei der Arbeit machen, zugleich reduzieren Teilzeitkräfte die Stunden, um dem Belastungsdilemma aus dem Weg zu gehen. Die Effekte gelte es zu beleuchten.

Auch müssten Faktoren wie Klassenstärke, Fächerkombinationen und Funktionen des Lehrers als Klassenleiter oder Schulleiter stärer in den Blick genommen werden. Bedarf sieht Mußmann auch bei der Erforschung des Schulklimas als positiven Faktor für das Arbeitspotenzial und die Auswirkungen der Personalführung.

Hohe Belastung, große Identifikation

Bereits 2017 hatte Mußmann eine Studie zur Arbeitsbelastung bei Lehrern vorgelegt (Ergebnisse siehe Grafiken). Damals hatten die Ergebnisse hervorgebracht, dass Lehrer zu einem großen Teil unter gesundheitsbelastenden Bedingungen arbeiteten, zugleich aber eine hohe Identifikation mit ihrem Beruf an den Tag legten – und akuten Handlungsbedarf benannt: „Der Leidensdruck ist in manchen Dimensionen enorm, die Arbeitsintensität ist hoch“, begründete er seinerzeit, dass trotz Zeitdrucks, Lärm und Arbeitsbelastung an den Wochenenden und an Abenden ein Großteil der Lehrer nicht resigniert: 86,6 Prozent hatten seinerzeit eine positive Erwartungshaltung benannt: „Der Leidensdruck ist in manchen Dimensionen enorm, die Arbeitsintensität ist hoch: Fast 92 Prozent der Lehrkräfte beansprucht der allgegenwärtige Zeitdruck (eher) stark und 83,7 Prozent der Zwang, aus Zeitgründen Abstriche bei der Qualität machen zu müssen“, erklärte er eines der Ergebnisse seinerzeit.

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„Mit den damaligen Studien konnten die Wissenschaftler belegen, dass Lehrkräfte hochbelastet und trotzdem hochmotiviert sind“, erläuterte die niedersächsische GEW-Vorsitzende Laura Pooth. „Nun liegen sämtliche Fakten auf dem Tisch, es gibt keinen weiteren Forschungsbedarf. Die Unterrichtsverpflichtung muss runter, damit gute Qualität gewährleistet werden kann“, verlangte sie.

Von Nadine Eckermann (mit dpa)

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