Skinheads erstechen Wehrdienstleistenden

Vor 20 Jahren: Nazis bringen Alex um

„Wut und Trauer“: Zur Gedenkdemonstration zum Tod von Alexander Selchow am 5. Januar 1991 kommen rund 5000 Teilnehmer.

„Wut und Trauer“: Zur Gedenkdemonstration zum Tod von Alexander Selchow am 5. Januar 1991 kommen rund 5000 Teilnehmer.

Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen mit einem immer stärker werdenden antifaschistischen Bündnis. Als Dreh- und Angelpunkt der rechten Szene erweist sich ab 1986 das Haus des aus Österreich stammenden Karl Polacek in Mackenrode. Hier schart der niedersächsische Landesvorsitzende der heute verbotenen, rechtsextremen Freiheitlichen Arbeiterpartei (FAP) gewaltbereite Gefolgsleute um sich.

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Alex wäre jetzt so alt wie ich“, sagt Tom Schmidt. Auch 20 Jahre nach dem gewaltsamen Tod von Alexander Selchow in der Neujahrsnacht 1991 kann Schmidt den Tod seines besten Freundes nicht verstehen. Auch heute noch frag ter sich oft in alltäglichen Situationen: „Was würde Alex denken? Aber Alex fehlt.“

In der Nacht seines Todes war Selchow mit einem Freund von einer Silvesterparty aufgebrochen und auf dem Weg nach Hause. In der Rosdorfer Friedensstraße treffen sie auf die beiden 17-jährigen, vermummten Nazi-Skinheads Oliver S. und Sven S., die mit dem Vorsatz von einer Neonazi-Party aufgebrochen waren, „herumschwirrende Linke durchzuklopfen“.

„Alex war Grufti“, sagt Tom Schmidt. Am liebsten habe er schwarz getragen. Gleichzeitig und fast im Widerspruch dazu beschreibt ihn Schmidt als „optimistisch und lebensfroh“. Politisch sei er schon „links“ gewesen, aber nicht „anti-nationalistisch“. So habe er sich nach dem Abitur an der Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule (IGS) bewusst für den Wehrdienst entschieden. Er tat seinen Dienst in der Zietenkaserne. Schmidt beschreibt Selchow als „gewaltscheu“. „Unsere Clique hat damals schon die Konfrontation mit den Glatzen gesucht“, erinnert sich Schmidt. „Alex war aber nie mit dabei. Er ist körperlichen Auseinandersetzungen aus dem Weg gegangen.“

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Als Selchow den beiden betrunkenen Neonazis auf der Straße entgegenkommt schlagen sie zu, ergreifen den jungen Mann, der nicht in ihr Weltbild passt und mit dem es zuvor am Abend bereits einen Streit wegen zu lauter Silvesterknallerei gab, am Arm. Selchows Begleiter flüchtet. Oliver S. zückt ein Messer und sticht auf den 21-Jährigen ein. Fünf Stiche treffen Selchow, einer geht direkt in den Bauch, so tief dass die untere Hohlvene durchtrennt und ein Wirbel verletzt wird. Der tödliche Treffer. Alexander Selchow stirbt am frühen Morgen am massiven Blutverlust.

Oliver S. und Sven S. werden innerhalb der folgenden beiden Tage festgenommen. Im Dezember wird ihnen unter Auschluss der Prozess gemacht. Das Landgericht bleibt bei den Strafen aber unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft. Der Haupttäter Oliver S. wird zu sechs Jahren Jugendhaft verurteilt, Sven S. bekommt vier Wochen Dauerarrest. Der Richter sieht in der Tat Körperverletzung mit Todesfolge. Staatsanwalt Hans Hugo Heimgärtner hatte stattdessen in seinem Plädoyer auf sieben Jahre beziehungsweise ein Jahr sechs Monate Jugendhaft wegen Totschlags gefordert. Seiner Argumentation, die Täter hätten den Tod Selchows billigend in Kauf genommen, folgt das Gericht nicht. Strafmildernd wirkt sich das umfassende Geständnis aus, zudem habe der Haupttäter Oliver S. Reue gezeigt, erinnert sich Heimgärtner.
Das milde Urteil sorgt bei den Linken für Empörung, weniger aber bei Selchows Freundeskreis: "Das Urteil war nicht zu verstehen, es war aber auch nicht überraschend. Es hat in unsere damalige Erfahrung gepasst. Von uns hat niemand damit gerechnet, dass mehr dabei herauskommt", sagt Schmidt und urteilt: "Für mich war es Mord."
Der Tod von Alexander Selchow markiert einen traurigen Höhepunkt einer langen Reihen von Übergriffen durch Neonazis in Göttingen und der Region. Ab Mitte der 80er Jahre sind Nazi-Skinheads in Göttingen nicht selten. Offen treten sie in Diskotheken auf, prügeln auf Ausländer und Linke ein, basteln Bomben, verüben Brandanschläge und greifen das Jugendzentrum Innenstadt an. Mehrere Wehrsportgruppen sind aktiv. Zwischen 1987 und 1989 listet eine Chronik der Antifa mehr als 100 "Nazi-Aktivitäten" in und um Göttingen auf. Allein für 1990 gebe es mehr als 100 Ermittlungsverfahren gegen Rechtsextreme. "Die fühlten sich stark", sagt Oberstaatsanwalt Heimgärtner heute. Das Gewaltpotenzial der Neonazis sei hoch gewesen. "Wir waren erschrocken", sagt Heimgärtner. Zum Waffenarsenal gehören bei den Nazis Schreckschusspistolen, Totschläger, Knüppel, Latten und Baseballschläger.
Die Bedrohung durch die rechtsextreme Szene wird lange nicht von offizieller Seite gesehen. So urteilt etwa der niedersächsische Verfassungsschutz 1987, dass sich die Szene "als Zirkelwesen überwiegend im stillen Kämmerlein" abspiele. Auch blieben "die rechtsradikalen Aktivitäten im Raum Göttingen hinter dem Landesmaßstab" zurück. 1988 schätzt die Polizei die "Skinszene in Göttingen" auf vier bis fünf Personen. Für die Staatsanwaltschaft besteht die "rechtsradikale Skinhead-Szene nicht mehr, nachdem fünf Kahlköpfe wegen verschiedener Straftaten hinter Gitter gebracht wurden.". Die Antifa hingegen schätzt die Zahl der "militanten Nazis" auf rund 50 Personen. Erst nach Alexander Selchows Tod sagt Göttingens Polizeichef Lothar Will, dass ihm "vor allem die Gewalt, die von rechtsradikalen Gruppierungen ausgeht, im Moment am meisten Sorgen" bereite.
Dreh- und Angelpunkt der südniedersächsischen Nazi-Szene ist ab 1986 das Haus des Österreichers Karl Polacek in Mackenrode. Der niedersächsische Landesvorsitzende der heute verbotenen Freiheitlichen Arbeiterpartei (FAP) schart hier in seinem zur Festung ausgebauten Holzhaus junge, gewaltbereite Neonazis um sich. Neben Thorsten Heise gehört auch Oliver S. dazu. Er wohnt bei Polacek. In einem Zeit-Bericht schildert Autor Heinrich Thies das Zimmer von Oliver: dekoriert mit Stahlhelm, Schlagkette, Dolchen und einem Hitler-Relief. Pressebilder zeigen den 17-Jährigen in Jeans, Springerstiefel, Kampfjacke und Reichskriegsflagge.

Der wenig medienscheue Polacek brüstet sich, dass seine Partei „das Radikalste ist, was es zur Zeit auf der Rechten gibt“. Den getöteten Wehrdienstleitenden Selchow verhöhnt er: „Wir nennen ihnnicht Soldat, sondern Gruftie.“ Selchow habe seinen Tod selbst verschuldet, weil er sich in der antifaschistischen Szene bewegt habe. „Wir üben die Abwehr feindlicher Angriffe. Die Gewaltspirale ist in Bewegung geraten. Heute geht nichts mehr ohne Messer“, sagt Polacek der Zeit.

Heute wäre der von Oliver S. umgebrachte Alexander Selchow 41 Jahre alt. „Würde Alex noch leben, wäre er heute auf jeden Fall Familienvater“, sagt Schmidt. „Alex war Familienmensch. Einen Freund wie Alex würde sich jeder wünschen.“

Eine Gedenkkundgebung zum 20. Todestag von Alexander Selchow beginnt am heutigen Sonnabend, 15. Januar, um 15 Uhr am Gänseliesel vor dem Alten Rathaus in Göttingen.

GT/ET

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