Wie Göttingen die Bundeswehr abwählte
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Eine alte Aufnahme der Zietenkaserne der Bundeswehr.
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Göttingen. Rückblende: Am 9. November 1989 fiel die Mauer, am 3. Oktober 1990 wurden aus zwei Deutschen Staaten einer. Die weltpolitische Lage entspannte sich. Der Moskauer Vertrag hatte eine Reduzierung der Truppenstärke von 495 000 auf 370 000 Soldaten und damit die Auflösung vieler Bundeswehrstandorte zur Folge. Besonders entlang der einst innerdeutschen Grenze drohte vielen Militäreinrichtungen das Aus. Noch stand Göttingen als Standort der Panzergrenadierbrigade IV auf keiner Streichliste des Verteidigungsministeriums. Und doch machte man sich im Göttinger Rathaus schon Mitte 1990 Gedanken über die Folgen der Entspannung für die Stadt. Nicht wenige Ratspolitiker wären die Bundeswehr lieber heute als morgen los geworden.
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Die Bundeswehrschau.
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Am 19. September 1990 stellte die Grün-Alternative Liste (GAL) den ersten Antrag in diese Richtung: Die Verwaltung solle vom Rat beauftragt werden, "den zuständigen Behörden gegenüber zu erklären, dass die Stadt Göttingen einer alsbaldigen Konversion der hiesigen Bundeswehreinrichtungen zur zivilen Nutzung prinzipiell zustimmt". Zwei Tage später unterschrieb der damalige SPD-Fraktionsführer Wolfgang Meyer, später Oberbürgermeister, den ähnlich lautenden Ratsantrag: Die Stadt sei "bereit, einer Auflösung des Bundeswehrstandortes Göttingen zuzustimmen, soweit folgende Rahmenbedingungen erfüllt sind", forderte die SPD vom Rat. Es folgten Forderungen nach einem sozialverträglichen Umbau, nach Ersatzarbeitsplätzen für 350 zivile Bedienstete, nach einem Strukturprogramm und Ersatzansiedlung wegen Ausfalls der Wirtschaftskraft. Zudem wurde der Verkauf der Liegenschaften an die Kommune "zum angemessenen Preis" verlangt.
Darum ging es: Die Zieten-Kaserne war 1936 an den Hang zwischen Stadt und Wald gebaut worden. Namensgeber ist der preußische Husaren-General Hans Joachim von Zieten. Damit war Göttingen eine der größten Garnisionsstädte geworden, denn noch existierten damals die Artillerie-Kaserne Weende, der Luftwaffen-Flugplatz Grone und die Kaserne des 20. Schützen-Regiments. Das 150 Höhenmeter über der Altstadt liegende terassenförmig angeordnete Kasernengelände war nach dem verlorenen Krieg an die britische Armee gefallen. Erst 1957 übernahm die Bundeswehr das Gelände. 1994 räumte sie es.
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Ein Bild aus früheren Jahren: Die Bundeswehrschau.
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Und das kam so: Nach den Ratsanträgen von GAL und SPD regte sich schnell Widerstand. CDU und FDP wollten die Bundeswehr behalten. CDU-Ratsfrau Brigitte Eiselt initiierte eine Bürgerinitiative, die bis Sommer 1991 genau 3355 gültige Unterschriften für eine Rettung des Standortes sammelte. Über diesen Bürgerantrag galt es, am 6. Juni 1991 im Rat abzustimmen. Entscheidende Forderung: "Der Bundeswehrstandort Göttingen soll erhalten bleiben." Die FDP stellte gar den Antrag, der Rat möge sich diese Forderung der Bürger zueigen machen. Aus FDP-Sicht sei das Gelände für Wohn- und Gewerbezwecke nicht geeignet. Anders SPD-Ratsherr Rainer Kallmann: Man solle nach vorn schauen und den "Umbau sozialverträglich gestalten und strukturpolitisch absichern". Ulrich Holefleisch von der GAL forderte gar, die Verwaltung möge gleich "mit planenden Vorbereitungen (der Konversion) beginnen".
Die Entscheidung: Sie fiel kurz vor 18.30 Uhr, aber indirekt. Nicht die Aufgabe des Standortes entschied der Rat, sondern die Mehrheit weigerte sich, den Erhalt des Standortes zu fordern. Namentliche Abstimmung war beantragt. Mit 25 zu 21 Stimmen, also gegen die Politiker von CDU und FDP, lehnte der Rat es ab, sich die Punkte zwei und drei des Bürgerantrages zueigen zu machen. Einzig dieser Satz ging einstimmig durch: "Die Stadt sieht sich in der Pflicht, bei den zu erwartenden Strukturveränderungen (…) Soldaten und Bedientete der Bundeswehr (…) jede mögliche Unterstützung zu gewähren".
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Auf der Bundeswehrschau.
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Pause, zehn Minuten Beratung, dann zieht die FDP-Fraktion ihren Antrag zurück. Es sei "lediglich ein sozialer Vorspann" bestehen geblieben. Auch die CDU-Fraktion befindet: Der beschlossene Rest des Antrages entspreche nicht mehr dem ursprünglichen Inhalt. Das ist das Ende der "Zieten-Ranch", wie die
Göttinger ihre Kaserne despektierlich nannten. Dass das Verteidigungsministerium den Beschluss als Bitte verstehen würde, Göttingen zu opfern und andere, heftig protestierende Standorte stattessen zu erhalten, wusste jedes Ratsmitglied.
Und dann? 1994 zog die Bundeswehr aus, die Stadt gründete zusammen mit Sparkasse und Niedersächsischer Landentwicklungs-Gesellschaft (Nieleg), später der Nord/LB, die Immobilien Development und Beteiligungsgesellschaft Niedersachsen mbH IDB &Co. Die IDB investierte 400 Millionen Euro, entwickelte eigene Haustypen für das Gelände (TriChalet), ließ die Kasernengebäude umbauen. Die Fakultät Naturwissenschaften und Technik der Hochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen (HAWK) und die Montessorischule zogen in alte Kasernenbauten, neue Wohnquartiere entstanden. Heute leben mehr als 2000 Menschen in diesem Stadtteil in 170 Einfamilien-, Reihen- und Doppelhäusern und rund 700 Wohnungen. Kein einziges Grundstück ist 25 Jahre nach dem historichen Rastsbeschluss im Mai 1991 mehr zu erwerben.
"Von Erwartung überfrachtet"
"Das sogenannte Göttinger Modell", sagt Oliver Köhler, der Projektleiter der IDB Zietenterrassen, sei anfangs "von Erwartungen und Ansprüchen überfrachtet" gewesen. "Mittlerweile hat sich jedoch ein ganzheitliches Bild mit topografischen Qualitäten entwickelt." Besonders die Architektur lasse das ehemalige Kasernengelände wieder jung aussehen. Die Preise für das erschlossene Grundstück auf Zieten lagen bei Beginn der Konversion bei 200 bis 280 Euro pro Quadratmeter, rechnet Köhler vor. Heute dürfte sich eine Erhöhung des Grundstückswertes um 100 Euro, also um gut ein Drittel bis gar zur Hälfte, errechnen. Insgesamt lägen die Immobilienpreise auf den Zietenterrassen - wie aber auch die im gesamten Göttinger Stadtgebiet - deutlich über denen von 1991.
"Der ideale Stadtteil"
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Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler.
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Göttingens Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD), damals Fraktionsführer im Rat, sagt heute über die Entwicklung des Zieten-Geländes: "Diejenigen, die damals für die Konversion stimmten, sind der Überzeugung gewesen, dass das der ideale Stadtteil wird. Tatsächlich ist auf den Tereassen ein großes neues Wohnquartier vom sozialen Wohnungsbau über Lofts bis hin zu Stadtvillen entstanden. Wo früher Panzer fuhren, wird heute studiert. Ich wäre froh, wenn ich heute so ein Areal für die weitere Stadtentwicklung hätte."
Köhler räumt aber auch ein: Es habe Anlaufschwierigkeiten gegeben. Der Erwartungsdruck sei riesig gewesen, und auch er habe damals geglaubt, dass es schneller gehe, diesen neuen Stadtteil zu entwickeln.
Aufschrei in Bevölkerung
Veronika Frels war damals CDU-Ratsfrau und hat als Immobilienkauffrau die Entwicklung des Zieten-Geländes intensiv verfolgt: "Ich kann mich noch gut an den Aufschrei der Politik aber auch der Bevölkerung erinnern, dass Göttingen die erste Stadt in der Bundesrepublik war, die eine weitere Stationierung der Bundeswehr nicht mehr wollte, obwohl sie ein großer Wirtschaftsfaktor war.
Das Gelände wurde beplant und die ersten Grundstücke und Immobilienangebote kamen auf den Markt. Das Interesse war erstmal sehr verhalten und zögerlich, was sich auch an den damaligen Immobilienpreisen ablesen lässt. Heute sind die Zietenterrassen ein blühender Stadtteil mit sanftem Gewerbe, attraktivem Wohnen, Einkaufsmöglichkeiten für den täglichen Bedarf, Gastronomie, Sportstätten, Schulen und Kindergärten. Die Immobilienpreise sind rapide in die Höhe geschnellt und all diejenigen, die am Anfang der Entstehung des Stadtteils gekauft haben, können einen erheblichen Wertgewinn verzeichnen."